Der Brief an die Hebräer (15)

Hebräer 9,1-12

Kapitel 9

Verse 1-5

Der Heilige Geist stellt uns in diesem Teil des Briefes (Heb 9,1 – 10,18) – immer noch in Fortsetzung des grossen Gegenstandes des Priestertums – das einmalige und vollkommene Opfer des neuen Bundes vor und seinen Wert im Gegensatz zu den früheren Opfern. Um die Vortrefflichkeit der Vorrechte hervorzuheben, die mit dem neuen Zustand der Dinge verbunden sind, erinnert der Schreiber an das, was mit der alten Ordnung im Zusammenhang stand. Zu diesem Zweck beginnt er mit der Aufzählung der Dinge, die sich in der Stiftshütte befanden, die er das Irdische oder «Weltliche» (kosmikos) nennt, das «von dieser Welt» ist, gegenüber der «Hütte, die nicht mit Händen gemacht, das heisst nicht von dieser Schöpfung ist» (Vers 11). Beachten wir wohl, dass im ganzen Brief von der Stiftshütte in der Wüste und nicht vom Tempel im Land, einem Bild von der Ruhe, die Rede ist.

Der erste Bund war in Verbindung mit diesem irdischen Heiligtum und hatte Satzungen, die Gott für den bezüglichen Gottesdienst gegeben hatte. Diese sollten jetzt verschwinden, wie auch der alte Bund. Selbst der Bau jenes Heiligtums brachte ja zum Ausdruck, dass der Anbeter nicht herzunahen konnte; Gott blieb hinter dem Vorhang verborgen.

In der Tat, jenes Heiligtum bestand aus zwei Teilen, die sich voneinander unterschieden, obwohl sie zusammen ein Ganzes bildeten. Im ersten Teil, der hier die vordere Hütte oder das Heilige genannt wird, befanden sich sowohl der Leuchter als auch der Tisch, auf den die Schaubrote gelegt wurden. Der zweite Teil – «eine Hütte» – wurde das Allerheiligste genannt und war von der vorderen Hütte durch einen Vorhang getrennt, der hier «der zweite Vorhang» genannt wird, weil schon beim Eingang ins Heilige ein Vorhang hing. Im Allerheiligsten befand sich – gemäss dieser Stelle – das goldene Räucherfass (oder Räucherpfanne, siehe 3. Mose 16,12.13; 4. Mose 16,46), mit dem der Hohepriester den Weihrauch darbrachte, am einzigen Tag im ganzen Jahr, an dem er in die Gegenwart des HERRN hineinging. Im Allerheiligsten war auch die Lade des Bundes, der Thron des HERRN, in der der goldene Krug war mit dem Manna, eine Erinnerung an die Fürsorge Gottes für sein Volk in der Wüste (2. Mo 16,32-34), der Stab Aarons, der gesprosst hatte, das Siegel seines Priestertums (4. Mo 17,10), und schliesslich die Tafeln des Gesetzes oder Zeugnisses, die hier «Tafeln des Bundes» genannt werden, denn der alte Bund war auf dem Grundsatz des Gehorsams des Menschen aufgerichtet worden (2. Mo 34,27.28; 25,21; 40,20). Schliesslich waren auf der Lade die Cherubim der Herrlichkeit, die den Sühndeckel überschatteten. Der Verfasser fügt hinzu, dass er jetzt nicht im Einzelnen von diesen Dingen, die – wie wir wissen – alle ihre symbolische Bedeutung haben, zu reden habe. Wir sehen in der Tat, dass er den Räucheraltar nicht erwähnt, dafür aber das Räucherfass, das am grossen Versöhnungstag mit Feuer vom Altar gefüllt werden musste; der Hohepriester brachte dann den Weihrauch nicht auf dem Altar dar, sondern im Allerheiligsten, auf dem Feuer im Räucherfass. Nebenbei ist zu bemerken, dass, was in den Kapiteln 9 und 10 von den Opfern gesagt wird, sich auf die Opfer des grossen Versöhnungstages bezieht.

Verse 6-10

Nachdem der Schreiber von der Einrichtung der zweiteiligen Stiftshütte gesprochen und summarisch aufgezählt hat, was sie enthielt, erinnert er uns an zwei Tatsachen, aus denen er Schlüsse zieht.

  1. Die Priester (unter ihnen auch der Hohepriester) gingen allezeit in die vordere Hütte hinein, um den Dienst zu vollbringen: Sie brachten auf dem Räucheraltar täglich Weihrauch dar, sie sorgten für die Lampen des goldenen Leuchters, damit diese beständig brannten, und sie erneuerten jeden Sabbat die Schaubrote auf dem Tisch (2. Mo 30,7.8; vgl. Lk 1,9; 1. Chr 6,49; 2. Mose 27,21; 3. Mose 24,1-9).
  2. Der Hohepriester ging einst allein, einmal im Jahr, am grossen Versöhnungstag (3. Mo 16,3-19), ins Allerheiligste hinein, indem er das Blut der Opfer hineintrug, die sowohl für ihn selbst (3. Mo. 16,11) als auch für die Vergehungen oder Sünden, die das Volk aus Unwissenheit begangen hatte, dargebracht worden waren (3. Mo 16,15.16).

Der Heilige Geist, der in Mose war, belehrt selbst, was diese Dinge bedeuteten. Vor allem zeigte dies an, dass der Weg zum Heiligtum Gottes unter dem ersten Bund geschlossen war. Der sündige Mensch konnte nicht in das wahre Allerheiligste, in die Wohnung Gottes, in den Himmel eingehen, wovon der zweite Teil der Stiftshütte ein Bild ist. Der Weg dahin war noch nicht offenbart. Zweitens sehen wir, dass alle fleischlichen Satzungen des mosaischen Gottesdienstes: die Gaben, die Opfer, die Waschungen, das Gewissen nicht vollkommen machen und von der Sünde reinigen konnten, eine unerlässliche Bedingung für den, der in Wirklichkeit Gott nahen und Gottesdienst üben will.

Der Ausdruck «Heiligtum» im 8. Vers redet von der Vereinigung der beiden Teile der Hütte zu einem Ganzen. Es ist das Bild des himmlischen Heiligtums, in das wir eintreten; dort finden wir nur den «zerrissenen Vorhang». In der Tat, als der Herr auf dem Kreuz sein Leben hingegeben hatte, riss der Vorhang des Tempels «von oben bis unten in zwei Stücke» (Mt 27,51). In Kapitel 10,19 unseres Briefes lesen wir: «Da wir nun, Brüder, Freimütigkeit haben zum Eintritt in das Heiligtum». Für uns ist es also das himmlische Heiligtum.

Der Hohepriester ging also am grossen Versöhnungstag in das Allerheiligste hinein, mit dem Blut der Opfer, die sowohl für ihn selbst als auch für die Verirrungen des Volkes dargebracht worden waren. Diese Verirrungen sind die aus Versehen begangenen Sünden, von denen in 3. Mose 4,2 und 4. Mose 15,22-29 gesprochen wird. Aber für die wissentlich begangenen Sünden gab es kein Schlachtopfer, das sie sühnen konnte: Der Schuldige musste unerbittlich getötet werden (4. Mo 15,30-36). Jene Begebenheit ist ein Beispiel von Sünde aus Vermessenheit. (Siehe auch 5. Mose 17,12). Daran wird auch in unserem Brief erinnert: «Jemand, der das Gesetz Moses verworfen hat, stirbt ohne Barmherzigkeit auf die Aussage von zwei oder drei Zeugen» (Heb 10,28).

Die Stiftshütte war ein Gleichnis auf die «gegenwärtige Zeit» auf der Erde; die Satzungen, die sich darauf bezogen, sollten nicht länger dauern als bis auf die «Zeit der Zurechtbringung», die neue Haushaltung. Sich an das mosaische Judentum festzuklammern bedeutete also, den Schatten der Wirklichkeit, oder das, was das Gewissen nicht befriedigen konnte, dem vorzuziehen, was es vollkommen macht. Auf diese Weise geht der Verfasser zu dem Thema über, das er im Auge hat, das heisst auf den Wert und die Tragweite des Opfers Christi, in völligem Gegensatz zu den unter dem alten Bund dargebrachten Opfern.

Verse 11-12

Christus ist gekommen! Das ist die grosse und herrliche Tatsache, die jetzt vor allem anderen vor den Leser hingestellt wird. Man erfasst ihre Bedeutung, wenn man sich an das erinnert, was von der Würde seiner Person gesagt worden ist. Zwei Dinge kennzeichnen Ihn:

  1. Christus ist «Hoherpriester der zukünftigen Güter» Diese zukünftigen Güter sind also nicht die Segnungen, die wir als Christen gegenwärtig in Christus geniessen, die gänzlich und ausschliesslich himmlisch sind, wie es auch unsere Beziehung zu Christus ist (Eph 1,3). Die zukünftigen Güter stehen im Gegensatz dazu in Zusammenhang mit dem neuen Bund mit Israel; sie umfassen alle die verheissenen Segnungen, die der Messias bringen wird, wenn Er während des Tausendjährigen Reiches regiert.
  2. Er ist gekommen, «in Verbindung mit der grösseren und vollkommeneren Hütte, die nicht mit Händen gemacht, das heisst nicht von dieser Schöpfung ist». Das will sagen, Christus ist nicht in Verbindung mit der irdischen Hütte gekommen, die die Hand des Menschen aufgerichtet hat, sondern in Verbindung mit einer grösseren und vollkommeneren Hütte, die ausserhalb der irdischen Schöpfung steht, in Verbindung mit der himmlischen Hütte. Wir haben es hier immer mit dem Gegensatz zwischen irdischen Satzungen und den himmlischen, besseren Dingen zu tun.

Nachdem dies festgestellt ist, sehen wir:

  1. Christus ist gekommen, nicht mit Blut von Böcken und Kälbern, sondern mit seinem eigenen Blut – ein neuer Gegensatz. Er hat durch den unendlichen Wert dieses Blutes, dessen Wirksamkeit bleibt, eine ewige Erlösung erfunden. Das Werk ist vollkommen, ganz erfüllt, und die Sünde für immer weggenommen. Wir haben eine Erlösung für die Ewigkeit.
  2. Nachdem diese ewige Erlösung bewirkt ist, ist Christus «ein für alle Mal in das Heiligtum eingegangen». Er bleibt dort, in der Gegenwart Gottes, als das Unterpfand der Vollkommenheit und des ewigen Bestandes des vollbrachten Werks.

Beachten wir im Vorbeigehen, welchen Platz das Blut in diesem Kapitel einnimmt. Damit soll der völlige Gegensatz zwischen dem Blut der Opfer und dem unendlichen Wert der umfassenden und ewigen Wirksamkeit des Blutes Christi hervorgehoben werden. Die Schrift lehrt uns, dass das Blut das Leben ist; das erklärt, weshalb das Essen jeglichen Blutes ausdrücklich verboten ist (1. Mo 9,4-6; 3. Mose 3,17; 7,26; 17,10-14; 5. Mo 12,16; Apg 15,28.29). Das vergossene Blut bedeutet Tod, das Leben ist weggenommen. Aber im Fall unseres anbetungswürdigen Heilands handelte es sich darum, das Leben hinzugeben: Er selbst hat sein Leben ausgeschüttet in den Tod. (Joh 10,11.15.17.18; Jes 53,12).