Der Brief an die Hebräer (20)

Hebräer 10,23-39

Verse 23-25

Der 23. Vers enthält eine zweite Ermahnung, die sich auf unser Bekenntnis vor den Menschen bezieht, während der vorangegangene Vers von unserem Vorrecht redete, in das himmlische Heiligtum, in die Gegenwart Gottes, einzutreten. Die Hoffnung, von der hier die Rede ist, bezieht sich immer auf das Kommende, das wir noch nicht besitzen, aber erwarten: Auf Christus, auf sein Kommen mit allen Segnungen, die damit verbunden sind. Er wird «zum zweiten Mal denen, die ihn erwarten, ohne Sünde erscheinen zur Errettung» (Heb 9,28). Hier wird, wie immer in diesem Brief, mit Absicht ganz allgemein vom Kommen geredet; es betrifft ebenso gut die Phase des Kommens Christi für die Gläubigen der Jetztzeit – die glückselige Hoffnung – wie auch die zweite Phase, die Befreiung Israels.

Wir bekennen, Christus zu erwarten; das ist die wahre christliche Haltung. Wie viele aber mag es geben, die es leider vergessen haben und nötig hätten, die Ermahnung des Apostels auf sich anzuwenden? Wir haben sie doch «unbeweglich» festzuhalten! Das natürliche Herz ist geneigt, sich entmutigen zu lassen, wenn sich die Erwartung in die Länge zieht; es sagt sich so leicht: «Mein Herr zögert sein Kommen hinaus!» (Lk 12,45). Dann aber gewinnt die Welt an Einfluss und man vergisst das himmlische Ziel. Daher ist diese Ermahnung so wichtig. Sie gründet sich übrigens auf die Treue dessen, der den glückseligen und nahen Ausgang des Laufes verheissen hat: «Treu ist er, der die Verheissung gegeben hat.»

Die in den Versen 24 und 25 an uns gerichtete Ermahnung bezieht sich auf die Gemeinschaft und auf die brüderlichen Beziehungen derer, die ausserhalb des Judentums gesammelt worden waren. Es genügt nicht, nur für sich selbst das Vertrauen in die Treue Gottes zu bewahren; wir haben auch an andere zu denken und an deren geistliches Wohl. Wir sollen auf diese Weise einander ermuntern, in dieser Liebe zu wandeln, die das Kennzeichen des göttlichen Lebens in uns ist, und auch in den guten Werken, die Gott verherrlichen und von der Wirklichkeit unseres Bekenntnisses Zeugnis geben.

Dieses Bekenntnis soll öffentlich sein. Es gab sich kund durch «das Zusammenkommen» derer, die einen gemeinsamen Glauben hatten. Dieses Zusammenkommen aufzugeben, wie es sich mehrere angewöhnt hatten, und so die Zugehörigkeit zu denen zu leugnen, die sich im Namen Christi versammelten, wegen der Schmach und den Leiden, die damit verbunden sein konnten, war eine Gefahr und ein schlechtes Zeichen im Blick auf den Glauben derer, die so handelten und sich am jüdischen Gottesdienst genügen liessen. Das ist der Grund für die ernste und schreckliche Erklärung in den Versen 26-31. Sie sollten sich daher ermuntern, im öffentlichen Bekenntnis des Glaubens treu und fest zu bleiben, «und das umso mehr, je mehr ihr den Tag näher kommen seht.»

Welcher Tag ist gemeint? Offenbar der Tag des Gerichts, an dem der Herr kommen wird (2. Thes 1,10). Es ist immer dieser Tag, der uns vorgestellt wird, wenn es sich darum handelt, auf unser Gewissen einzuwirken, zur Wachsamkeit und zu einem heiligen Wandel aufzurufen, in Absonderung von der Welt, und gleichzeitig die Christen zu ermuntern, sich nicht vor den Menschen zu fürchten. (Siehe 2. Tim 4,7.8; Mt 24,42; 1. Thes 3,13, usw.) Übrigens kam ein Tag des Gerichts näher, ein Vorspiel und Bild des Endgerichts: der Tag der Zerstörung Jerusalems, dessen Herannahen sich durch Zeichen kundgeben würde (siehe Lk 21,20-24.) Im Augenblick, wo der Tempel und der Gottesdienst an dem die Hebräer noch so sehr festhielten, verschwinden sollten, war es daher nötig, dass sie dieses «unser Zusammenkommen» nicht aufgaben, das ausserhalb aller Formen bestand und gegründet war auf Christus und sein Werk! Die Aufgabe des christlichen Bekenntnisses raubte ihnen jede Hoffnung. Das sehen wir in den folgenden Versen.

Verse 26-31

Diese Verse zeigen uns die schrecklichen Folgen der Aufgabe des christlichen Bekenntnisses. Es ist wichtig, dass wir ihre Tragweite gut erfassen.

Vor allem, um welche Wahrheit handelt es sich in Vers 26? Offensichtlich um das Christentum, aber gemäss der in diesem Brief dargestellten Lehre, um das Christentum, gesehen im Wert des vollkommenen und allgenügenden Opfers Christi, das ein für alle Mal dargebracht worden ist, um die Sünde wegzutun, und das nicht wiederholt werden kann. Wenn jemand, nachdem er diese Wahrheit erkannt und bekannt hat, sie aufgibt und freiwillig die Sünde wählt, das heisst einen Wandel nach seinem eigenen Willen, so gibt es für ihn kein anderes Opfer mehr, zu dem er Zuflucht nehmen kann. Das einzig wirksame Opfer, das Sünden wegnimmt, hat er verworfen, Dadurch machte er sich zum Gegner Christi und seiner Gnade, und für solche Menschen blieb nur Gericht übrig, das sie gewiss erreichen und verzehren wird.1

Der Apostel, der im ganzen Brief die Vortrefflichkeit des Christentums gegenüber dem Judentum betont hat, zeigt auch, dass die Verachtung des Christentums ein schrecklicheres Gericht herbeiführen wird als jenes, das die Verächter des Judentums traf. Das durch Mose gegebene Gesetz verachten, war gleichbedeutend mit dessen Verwerfung, und die, die sich dieser Missetat schuldig machten, wurden ohne Barmherzigkeit getötet. Nichts vermochte ihre Sünde zu sühnen. (Siehe 3. Mose 24,10-16; 4. Mose 15,32-36; 5. Mose 17,2-7.) Das Christentum verwerfen, nachdem man es kennengelernt und sich dazu bekannt hatte, war ein unendlich schwereres Vergehen.

In der Tat, die beiden grossen christlichen Vorrechte sind

  • das alleinige und vollkommene Opfer, das der Sohn Gottes auf dem Kreuz dargebracht hat, indem Er sich selbst hingab, und
  • die Gegenwart des Heiligen Geistes, die der göttlichen Gnade, die sich in diesem Opfer kundtat, Zeugnis gibt.

Diese Vorrechte aufgeben, nachdem man sie kennen gelernt und bekannt hatte, hiess, den mit Füssen treten, den man als Sohn Gottes erkannt hatte. Damit achtete man das Blut des Bundes, durch das man bekannte, abgesondert zu sein, für gemein; man lästerte den Geist der Gnade. Gott, seine Gnade, sein Sohn, sein Opfer und der Heilige Geist, der davon Zeugnis gibt – alles wurde verachtet und verworfen. Was anderes konnte der Endpunkt eines solchen Weges sein, als das gerechte Gericht vonseiten dessen, dem die Rache ist und der jedem nach seinen Werken geben wird? Das Gericht durch den Herrn ist eine unumstössliche Sache: Er hat es in Aussicht gestellt. Und wie schrecklich muss es sein, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen und den gerechten Lohn für die grösste der Sünden zu empfangen, für den, der durch die freiwillige Verwerfung seiner Gnade für sich selbst die Tür jeder Hoffnung zuschliesst!

Verse 32-36

Damit sie einem solchen Los entgehen möchten, und um sie zur Geduld und zum Ausharren zu ermuntern, erinnert der Schreiber die Hebräer daran, wie viel sie am Anfang ihrer christlichen Laufbahn, «in den früheren Tagen» gelitten hatten, nachdem sie durch dieses himmlische Licht der Wahrheit, das in ihre Seelen gedrungen war, «erleuchtet waren». Eine Sache, für die wir viel gelitten haben, ist uns umso mehr wert; und zudem ist die Erfahrung der Gnade Gottes, die uns in diesen Leiden aufrecht erhalten hat, wohl geeignet, uns zu ermuntern.

Auf diese Empfindungen stützt sich vorerst die an diese Christen gerichtete Ermahnung. Sie hatten die Echtheit ihres Bekenntnisses dadurch bewiesen, dass sie die Schmach und die Trübsal auf sich nahmen, dass ihr Herz sich mit denen verband, die verfolgt wurden, indem sie den um des Glaubens willen Gefangenen Erleichterung brachten, und dass sie den Raub ihrer Güter mit Freuden aufnahmen, weil sie im Himmel einen besseren und bleibenden Besitz besassen. Es war also nicht der Augenblick, sich entmutigen zu lassen, jetzt, wo das Ziel so nahe bevorstand. Sie sollten das bewiesene Vertrauen auf Gott und seine Verheissungen nicht von sich werfen, dessen Belohnung die Herrlichkeit ist. Es ist wahr, dass Ausharren notwendig ist, um bis zum Ende auf dem Weg des Willens Gottes voranzugehen, auf dem man Prüfungen begegnet; aber sein Endziel ist der Genuss der verheissenen Dinge. Es ist kostbar zu sehen, wie der Heilige Geist, um die Seelen zu ermuntern, ihnen die sichere Belohnung vorstellt, die Gott, der seinen Verheissungen treu ist, ihnen am Ende der Laufbahn geben wird.

  • Die Ruhe Gottes,
  • der bessere und bleibende Besitz,
  • die uns mit dem Erscheinen Christi gebrachte Errettung

das ist es, was uns erwartet.

Vers 37

Der Augenblick, wo wir in den Besitz der Verheissung treten werden, ist nahe: Ein neuer und mächtiger Beweggrund, um sich aufzuraffen, sich in Geduld zu fassen und auszuharren. «Denn noch eine ganz kleine Zeit, und der Kommende wird kommen und nicht ausbleiben.» Die Erfüllung alles dessen, was die herrliche Verheissung in sich schliesst, ist mit dem Kommen Christi verbunden. «Der Kommende» ist ein deutlicher Ausdruck; er zeigt uns Christus sozusagen unterwegs; er kennzeichnet Ihn, so wie anderseits die dauernde und geduldige Erwartung den Treuen charakterisiert. Er wird bald erscheinen; Er wird nicht ausbleiben. Alles in diesem Vers kündet uns die sehr nahe Ankunft Christi an:

  • «Noch eine ganz kleine Zeit»;
  • der «Kommende»;
  • «Er wird nicht ausbleiben»

Der Christ soll im Blick auf dieses Kommen leben, gehorchen und ausharren. Nichts wird seinen Wandel so sehr zur Treue beeinflussen, wie der Gedanke: «Er kommt!»

Vers 38

Aber es gibt einen Grundsatz, der die Kraft dieses Lebens der Erwartung bildet: Der Glaube. Er kennzeichnet das Leben des Gerechten und nährt es; er gibt ihm die Kraft, um inmitten der Schwierigkeiten auszuharren. Da, wo er fehlt, wird das Leben schwach; die Prüfungen erschrecken ihn, er ist in Gefahr, sich zurückzuziehen und zurückzubleiben; und wenn jemand diesen verhängnisvollen Weg beschreitet, hat Gott kein Wohlgefallen an ihm.

Vers 39

«Wir aber», sagt der Verfasser, indem er sich in die Mitte der Gläubigen stellt und sich in brüderlicher Weise mit ihnen vereinigt, «sind nicht von denen, die sich zurückziehen zum Verderben» – das ist der schreckliche Endpunkt, zu dem die Aufgabe des Vertrauens auf Gott bezüglich der Erfüllung seiner Verheissung hinführt – «sondern von denen, die glauben zur Errettung der Seele». Die Errettung der Seele, der Genuss des ewigen Lebens in Herrlichkeit, das ist der glückselige Abschluss des Weges des Glaubens.

Während die Verse 26-31 das Gericht erkennen lassen, zu dem die freiwillige Aufgabe des Bekenntnisses des Glaubens führt, ermuntern die folgenden Verse jene, die den Glauben bewahren, indem sie ihnen zeigen, dass das Endziel des Weges Christus ist, der kommen wird, um die Verheissung der Herrlichkeit zu erfüllen.

Die Stelle: «Der Gerechte aber wird aus Glauben leben», ist dem Propheten Habakuk 2,4 entnommen und wird im Neuen Testament dreimal angeführt:

  1. In Römer 1,17;
  2. in Galater 3,11 und hier
  3. in Hebräer 10,38.

Im Brief an die Römer liegt die Betonung auf dem Wort «der Gerechte»; im Galaterbrief auf dem Wort «Glaube» und hier auf dem Wort «leben».

  • Im ersten Fall steht die Anführung in Beziehung zur Gerechtigkeit Gottes, offenbart im Evangelium, auf dem Grundsatz des Glaubens: «Der Gerechte aber wird aus Glauben leben.»
  • Im zweiten Fall ist es der Glaube, der rechtfertigt, und er wird dem Gesetz gegenübergestellt, das verdammt.
  • Und schliesslich, im dritten Fall, steht «aus Glauben leben» im Gegensatz zu «sich zurückziehen» und «verderben».
  • 1Es scheint, dass der Heilige Geist immer das Gericht im Blickfeld hat, das im Begriff war, auf die Juden herabzukommen, die Christus verworfen und dem Heiligen Geist widerstanden hatten.