Der Brief an die Hebräer (27)

Hebräer 12,14-17

Vers 14

Wir werden hier ermahnt, zwei Dingen nachzujagen: Dem Frieden mit allen und der Heiligkeit, ohne die niemand den Herrn schauen wird. Das erste betrifft unsere Beziehungen untereinander, das zweite aber unsere Beziehungen mit Gott. Dem Frieden nachzujagen bedeutet, sich anzustrengen, Uneinigkeiten zwischen Christen zu vermeiden, die der Entfaltung des geistlichen Lebens schädlich sind. Vielmehr aber sollen wir in allem einen Geist der Demut und der Sanftmut zeigen, der Verärgerung verhindert, Reibungsflächen mildert und den Streit besänftigt. Es ist leicht verständlich, dass dazu vor allem ein Zustand des Friedens in der Seele nötig ist, der sich aus einem Wandel mit Gott und in seiner Abhängigkeit ergibt. Wenn der Friede Gottes meine Seele in der Freude im Herrn bewahrt (Phil 4,6.7), wenn der Friede des Christus in meinem Herzen regiert (Kol 3,15), so wird es mir leicht fallen, mit allen dem Frieden nachzujagen. Ich werde ihn, überall wohin ich gehe, mit mir bringen; meine Füsse werden beschuht sein mit der Bereitschaft des Evangeliums des Friedens (Eph 6,15), und anstatt Misshelligkeiten zu schüren, werde ich Frieden stiften, wie es für ein Kind des Gottes des Friedens gehört (Mt 5,9). Jemand hat gesagt, ein glücklicher Mensch sei auch verträglich. Wenn ich in meiner Seele die Gemeinschaft mit dem Gott des Friedens geniesse, bin ich glücklich, und diese Glückseligkeit macht es mir leicht, gegenüber den anderen nachgiebig, wohlwollend zu sein und Nachsicht zu üben.

Aber dieser Friede mit allen darf nicht auf Kosten der Heiligkeit, auf Kosten dessen, was unsere Beziehungen zu Gott berührt, zustande gebracht werden. Wir haben gleichzeitig diesen beiden Dingen nachzustreben. Wir wissen, was wir unter der praktischen Heiligkeit, von der hier die Rede ist, zu verstehen haben. Es ist die Absonderung von aller Verunreinigung, von allem, was böse ist (2. Kor 6,17.18; 7,1) zu Gott hin, und gleichzeitig ein Wandel in allem, was Gott gemäss ist. Überall werden wir dazu ermahnt (1. Pet 1,15.16), und Gott selbst wird uns als Beispiel und Vorbild, wie auch als Beweggrund zur Heiligkeit vorgestellt. Ohne diese ist keine Gemeinschaft mit Gott möglich; wir haben schon hier auf der Erde das Vorrecht, Ihn zu sehen, Ihn zu betrachten, Ihn durch den Glauben zu geniessen und in der Kraft des Geistes, aber nie ausserhalb der praktischen Heiligkeit. Wenn wir in einer Sache nachgeben, die gegen die Heiligkeit verstösst, verdunkelt sich unsere geistliche Einsicht, und unser Genuss der Dinge Gottes schwindet. Man begreift also, dass die praktische Heiligkeit, der wir hier auf der Erde nachzustreben haben, nicht von einer anderen Natur ist, als die in jeder Beziehung vollkommene, unveränderliche Heiligkeit (Off 4,6), die wir im Himmel geniessen werden, die es uns allein ermöglichen wird, den Herrn zu schauen. Wir haben ihr also nachzujagen, nach ihr zu streben, hier auf der Erde darin zu verharren, bis wir vor seiner Herrlichkeit untadelig, mit Frohlocken dargestellt werden (Judas 24). «Glückselig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen» (Mt 5,8). «Und jeder, der diese Hoffnung zu ihm hat, reinigt sich selbst, wie er rein ist» (1. Joh 3,3); der Wandel in der praktischen Heiligkeit mündet in das ewige Leben in der Herrlichkeit aus (siehe Röm 6,22). Wie wichtig ist es doch in unserer Zeit der Erschlaffung, uns mit Ernst auf diese Ermahnung zu besinnen: «Jagt der Heiligkeit nach!» Ist es wirklich das Ziel, dem ich nachjage; ist es mir wirklich ein Anliegen, in allem für meinen Gott abgesondert zu bleiben?

Verse 15.16

«Darauf achten»: Dieses Wort der Warnung ist wohl begründet, im Blick auf die drei hier erwähnten Gefahren, in die wir bei einem Mangel an Wachsamkeit so leicht fallen und dadurch vom Weg der Heiligkeit abirren können.

«Dass nicht jemand an der Gnade Gottes Mangel leide.» Das ist die erste Gefahr, auf die hier aufmerksam gemacht wird. Die Gnade Gottes allein, die uns auf einen Weg des Segens gebracht hat, befähigt uns, mit Ausharren darauf zu wandeln; nur sie vermag uns vor dem Bösen zu bewahren. Darum wünschen die Apostel in ihren Briefen den Heiligen, an die sie schrieben, die Gnade. Sie ermahnten sie, in der Gnade Gottes zu verharren; sie wurden dieser Gnade anbefohlen und ermahnt, in der Gnade, die in Christus Jesus ist, zu wachsen. Friede, Freude, Sicherheit, Kraft – alles hängt von dieser Gnade ab, von dieser Bereitschaft des Herzens Gottes, sich zu uns herabzuneigen. Wir finden darin alles, was für das christliche Leben notwendig ist, für den Wandel in der Heiligkeit. Aber wenn ein Herz beginnt, sie zu vergessen, wenn es sich nicht mehr darauf stützt, sie nicht mehr geniesst, mit einem Wort, wenn ihm Gnade mangelt, dann ist es offen für das Böse. Nicht dass Gott seine Gnade zurückgezogen hätte, denn Er bleibt ja immer derselbe; aber wir können diesen kostbaren Schatz vernachlässigen; irgend eine Ursache kann uns dessen Genuss rauben.

Zweite Gefahr: «Dass nicht irgendeine Wurzel der Bitterkeit aufsprosse und euch beunruhige und viele durch sie verunreinigt werden.» Das hier erwähnte Böse kommt aus dem ersten hervor, denn eine Wurzel der Bitterkeit könnte nie keimen, Knospen treiben und in das Gebiet der Gnade eindringen, wenn das Herz davon erfüllt ist. Hier haben wir zweifellos eine Anspielung auf 5. Mose 29,17.18, wo die Untreue des Herzens und der Götzendienst, die sich in das Volk Gottes einschleichen können, mit einer bitteren Wurzel verglichen werden, «die Gift und Wermut trägt». Mose sagt: «dass kein Mann oder keine Frau oder keine Familie oder kein Stamm unter euch sei, dessen Herz sich heute von dem HERRN, unserem Gott, abwende, um hinzugehen, den Göttern jener Nationen zu dienen; dass nicht eine Wurzel unter euch sei, die Gift und Wermut trage, und es geschehe, wenn er die Worte dieses Eidschwurs hört, dass er sich in seinem Herzen segne und spreche: Ich werde Frieden haben, wenn ich auch in der Verhärtung meines Herzens wandle!»

So ist es auch bei den Christen. Der Gedanke, sich vom Christentum abzuwenden, konnte sich im Herzen der Hebräer erheben, wegen der Schwierigkeiten, die sie auf ihrem Weg fanden. Wenn sie an der Gnade Gottes Mangel litten und diesen Gedanken nicht verurteilten, konnte er zu einer Wurzel der Bitterkeit werden, die, zuerst verborgen, in kurzem Knospen treiben, sich zeigen, die Seelen beunruhigen und viele verunreinigen würde. Nichts wirkt so schnell und ist so ansteckend wie das Böse. Die Ermahnung hier hat eine allgemeine Tragweite und betrifft uns alle. Wenn irgendetwas Böses, irgendeine Sünde im Herzen geduldet und nicht gerichtet wird, wird sie zu einer Wurzel, die nicht unterlassen wird, nach aussen hin zu knospen. Die schlechte Pflanze wird an die Oberfläche kommen, das Böse wird nach aussen hin erscheinen, die Seelen beunruhigen und sich ausbreiten, so dass viele verunreinigt werden. Dieses Fortschreiten des Bösen ist besonders wahrzunehmen, wenn es sich um Böses in der Lehre handelt.

Der Ausdruck «Wurzel der Bitterkeit» ist sehr auffallend. Die Wurzel hat schon alle die Eigenschaften, die sich in den Früchten vorfinden, die sie hervorbringt. Gift und Bitterkeit sind auch die traurigen und üblen Folgen, die aus ihr hervorkommen.

Dritte Gefahr: «Dass nicht jemand ein Hurer sei oder ein Ungöttlicher wie Esau.» Bis zu diesem Punkt kann also der Mangel an der Gnade Gottes und das Fehlen des Selbstgerichts führen, die Vernachlässigung im Ausrotten der Wurzel der Bitterkeit, sobald sie sich zeigt. Es mag sich um heidnische Sittenverderbnis handeln, wenn hier von einem «Hurer» gesprochen wird. Aber es geht noch weiter. Im Alten Testament wird der Götzendienst, in den die Israeliten oft gefallen sind, Ehebruch gegenüber Gott und Hurerei genannt. Es gibt also für die Seele eine geistliche Hurerei, die dann eintritt, wenn sie sich von der vollständigen Treue abwendet, die sie dem Herrn schuldet (siehe Hos 4,12), und der Apostel ermahnt die Gläubigen in dieser Hinsicht (1. Kor 10,8; siehe auch Off 2,14.20). Aber es gibt auch «Ungöttliche wie Esau», und es handelt sich dabei um das, wovon der Apostel im 6. und im 10. Kapitel geredet hat: um das Aufgeben des Christentums durch solche, die aus dem Judentum hervorgekommen waren und es angenommen hatten. Die ungöttliche Handlung besteht darin, eine heilige Sache, die Gabe Gottes zu verachten und zu verwerfen, und die Folgen davon sind schrecklich. Esau verachtete und verkaufte sein Erstgeburtsrecht, an das doch alle die dem Abraham verheissenen Segnungen geknüpft waren. Und dies geschah aus einem ganz materiellen und fleischlichen Beweggrund, der seinen Mangel an Glauben und die Geringschätzung verriet, die er für die Gabe und die Verheissungen Gottes übrig hatte. «Siehe, ich gehe hin zu sterben, und wozu nützt mir da das Erstgeburtsrecht?» sagte er. Konnte er nicht auf Gott vertrauen? Nein, «Esau verachtete das Erstgeburtsrecht» (1. Mo 25,29-34). Die Hebräer waren einer ähnlichen Gefahr ausgesetzt. Um den Trübsalen zu entgehen und die irdischen Dinge zu geniessen, waren sie versucht, umzukehren. Aber dies wäre ungöttlich gewesen; damit hätten sie Christus, die Gabe Gottes verachtet. Die Ermahnung, die ihnen der Verfasser gab, war also ganz auf sie zugeschnitten und hatte eine grosse Kraft.

Aber hat dies nicht auch uns etwas zu sagen? Ist es noch nie vorgekommen, dass wir irdische Vorteile, irgendeine Befriedigung des Fleisches Christus und den himmlischen Dingen vorgezogen haben?

Vers 17

Was die Warnung noch ernster macht, ist die Folge des ungöttlichen Verhaltens, die in der Geschichte Esaus sichtbar wird. Er, der den Segen verachtet hatte, wurde verworfen, als er ihn später erben wollte, obgleich er ihn mit Tränen eifrig suchte. «Hast du nur diesen einen Segen, mein Vater?», rief er unter Weinen. «Segne mich, auch mich, mein Vater!» Aber «er fand keinen Raum zur Buße»; sein Vater traf keine andere Anordnung. Es war nun zu spät (1. Mo 27,38). Dieses Beispiel wird vor die bekennenden Hebräer hingestellt, um ihnen die Gefahr zu zeigen, die denen droht, die das Christentum verwerfen, nachdem sie es angenommen hatten. Wir müssen uns daran erinnern, dass die Hebräer immer in Beziehung zu ihrem Bekenntnis betrachtet werden, ohne dass die Frage der Wirklichkeit des göttlichen Lebens in ihnen berührt wird.