Kapitel 11
Verse 1.2
Wir finden in diesen Versen nicht eine vollständige Definition des Glaubens, woraus der Gerechte leben soll, sondern einen seiner Wesenszüge: einen Hinweis auf seine Kraft und seine Wirkung. Er ist wirksam und tatkräftig in der Seele. Er macht die Zukunft gegenwärtig und das Unsichtbare sichtbar, und das ist die Kraft des Glaubens. Er ist eine Verwirklichung von Dingen, die man hofft, als ob man sie schon in Händen hätte; das gläubige Herz lebt in der Gewissheit ihrer Wirklichkeit. Der Glaube sieht das Verborgene; er gibt uns bezüglich des Unsichtbaren dieselbe Gewissheit, die wir sonst für die sichtbaren Dinge haben. Der Glaube zeigt uns die Substanz von Dingen, die noch nicht in Erscheinung getreten sind.
Die Erklärung, dass «der Gerechte aus Glauben lebt», wird in diesem Kapitel durch Beispiele untermauert, die aus dem ganzen Zeitabschnitt des Alten Testaments herausgegriffen sind und mit Christus abschliessen, dem Anfänger und Vollender des Glaubens. Durch Glauben also haben die Alten Zeugnis erlangt – das Zeugnis, dass sie Gott wohlgefallen hatten. Die gläubigen Hebräer hatten die grösste Mühe, sich von den sichtbaren Dingen zu lösen, die sich auf eine Religion nach dem Fleisch bezogen. Es war für sie schwer begreiflich, dass sie auf der Erde als Fremde und Pilger vorangehen sollten, die Blicke des Glaubens auf himmlische Dinge gerichtet, die für die Gegenwart unsichtbar waren, und auf die Person Christi in der Herrlichkeit, dem grossen Gegenstand des Glaubens und der Hoffnung. Darum zeigte ihnen der Verfasser des Briefs in unserem Kapitel, dass dieses Leben des Glaubens, zu dem sie berufen worden waren, und der Wandel, in dem es sich offenbart, keineswegs etwas Neues waren, sondern von Anfang an das Leben und den Wandel aller Gerechten gekennzeichnet hatten.
In Römer 3,28 sagt der Apostel: «Wir urteilen, dass ein Mensch durch Glauben gerechtfertigt wird», und zeigt dann in Römer 4 an den Beispielen Abrahams und Davids, dass die Rechtfertigung aus Glauben nichts Neues war. Hier im Hebräerbrief sehen wir etwas Ähnliches. Das zehnte Kapitel schliesst mit der Erklärung, dass das Leben des Christen ein Leben des Glaubens sei, und das elfte Kapitel beweist anhand von vielen Beispielen, dass dies immer das Leben der Gerechten charakterisiert hatte.
Vers 3
Die sieben ersten Verse des elften Kapitels, das uns beschäftigt, bilden ein Ganzes, zusammengesetzt aus mehreren wichtigen Wahrheiten. Zuerst wird die Schöpfung erwähnt. Es ist wohl beachtenswert, dass die Schöpfung des Universums die erste Tatsache bildet, mit der der Glaube verknüpft ist, der Glaube, der dem Herzen die Dinge bezeugt, die man nicht sieht. Die Schöpfung ist die erste Kundgebung des unendlichen und allmächtigen Gottes im Endlichen, im «Gemachten». Wie kann man sie denn begreifen? Der gebildete wie auch der ungebildete Mensch werden nie verstehen, dass das Sichtbare nicht aus Erscheinendem, d.h. aus Dingen hervorgegangen ist, die mit den Sinnen wahrgenommen werden können, dass also das Universum aus dem Unsichtbaren hervorgegangen sein soll. In ihren Verstandesüberlegungen schliessen sie vom Bestehenden auf die Ursache. Sie gelangen daher nie zur grossen Grundursache, sondern kommen zum Schluss, dass die Welt immer bestanden habe. Der Gläubige aber stützt sich auf die Offenbarung Gottes: «Im Anfang schuf Gott die Himmel und die Erde.» Er erfasst und anerkennt, «dass die Welten» – das ganze Universum – «durch Gottes Wort bereitet worden sind». Der Glaube erfasst diese allmächtige Handlung des schöpferischen Wortes. Alles erscheint ihm einfach und leicht, weil er Gott hineinbringt.
In diesem Glauben an den Schöpfer-Gott haben wir gewissermassen die Grundlage für das, was nun folgt; denn es ist für den Glauben etwas Grosses, dieses Wunder zu erfassen, das alle anderen überragt, diese Handlung der Allmacht, die alle Dinge aus dem Nichts hervorbringt. Dieses erste Beispiel ist nicht nur der Glaube an einen Schöpfer-Gott, sondern der Glaube an die Allmacht seines Wortes.
Vers 4
Wir sehen im Beispiel Abels eine Seele, die Gott durch den Glauben naht. Die Sünde war dazwischengetreten; wie konnte der Mensch Gott nahen? Aufgrund der Ereignisse im Garten Eden, aus dem seine Eltern vertrieben worden waren, vielleicht auch durch die Kleider aus Fellen, womit Gott sie bekleidet hatte, begriff Abel, dass zwischen ihm und Gott ein Opfer gestellt werden und dass der Tod, das Gericht über die Sünde, eintreten musste, damit er vor Gott Gnade finden konnte. Durch Glauben an die Wahrheit der göttlichen Notwendigkeit, die Sünde zu richten, nahte er daher Gott mit einem Opfer, das Ihm wohlgefällig ist. Und mit dem Opfer nimmt Gott auch den an, der geopfert hat. Durch diesen Glauben empfängt Abel das Zeugnis, gerecht zu sein, im Besitz einer Gerechtigkeit, die gottgemäss ist. Gott gibt Zeugnis zu seinen Gaben, sie sind Ihm wohlgefällig, und mit dem Opfer ist auch Abel angenommen.
So ist es auch mit uns. Das Opfer Abels war ein Bild des Opfers Christi, des Lammes ohne Fehl und Flecken. Dieses Opfer, die Hingabe von Jesus selbst – Er hat sich Gott ohne Flecken geopfert – wurde von Gott angenommen, und durch den Glauben an Jesus nahe ich Gott, von Ihm angenommen, so wie Jesus selbst es ist.
Abel, obwohl tot, redet noch. Sein Glaube redet, sein Opfer redet, sogar sein Tod redet. Das Beispiel seines Glaubens, aufbewahrt in den ersten Seiten der Heiligen Schrift, hat geredet und wird bis zum Ende reden.
Verse 5.6
Nach Abel folgt Henoch in der Reihe der Zeugen des Lebens des Glaubens. Er wandelte durch Glauben 300 Jahre mit Gott, als ein himmlischer Mensch auf der Erde. Er schritt durch eine Welt der Gottlosigkeit, der er das Gericht ankündigte (1. Mo 5,22; Judas 14.15). Dieses himmlische Leben, die Frucht des Glaubens, der die Existenz und die Gegenwart Gottes verwirklicht, führt in seiner Kraft und durch die Gnade Gottes Henoch zu einem anderen Lebensabschluss als zum Tod. Er wird aus dieser Welt weggenommen, ohne dass er den Tod sehen muss. Es wird ihm erspart, das über den sündigen Menschen ausgesprochene Todesurteil zu erleiden. Er hat das Leben Gottes gelebt und hat mit Ihm gewandelt; nun geht er zu Gott, in der Kraft des Lebens Gottes, das über den Tod erhaben ist. Die Schrift schreibt seine Entrückung seinem Glauben zu; sie sagt: «Durch Glauben wurde Henoch entrückt, damit er den Tod nicht sehe.» Der Heilige Geist bringt also den Wandel mit Gott durch den Glauben in Zusammenhang mit dem Ausgang eines solchen Wandels. Der Ausgang ist das Ergebnis des Glaubens, der diesen Wandel der innigen Gemeinschaft mit Gott bewirkt hat.
Henoch hat «das Zeugnis gehabt, dass er Gott wohlgefallen habe»; er lebte in diesem Bewusstsein, also im Genuss seiner Gemeinschaft mit Ihm. Die gottlosen Menschen, in deren Mitte er sich befand, waren zweifellos anderer Meinung; da er Gott wohlgefiel, missfiel er ihnen. Aber was hatte dies zu bedeuten? Gott wohlzugefallen ist weit besser! Von Gott abhängig sein, von Herzen und völlig Ihm vertrauen – das ist es, was Ihn ehrt und auf diese Weise ist man Ihm angenehm; denn «ohne Glauben ist es unmöglich, ihm wohlzugefallen». Durch Glauben also lebt und wandelt man in Gemeinschaft mit Gott. Man gefällt Ihm und findet überdies in Ihm Belohnung. Um Gott zu nahen, ist es nötig zu glauben, dass Er ist. Damit ist nicht nur eine verstandesmässige Überzeugung gemeint. Das Herz muss den lebendigen und wahren Gott erfassen, den Gott der Liebe, der sich für uns interessiert und der jedem, der Ihn sucht, Belohnung gibt – eine Glückseligkeit, die aus seiner Zustimmung hervorgeht.
Vers 7
Noah, der vom Heiligen Geist ausgewählte dritte Zeuge vor der Sintflut, wird uns hierauf als Beispiel des Glaubens vorgestellt. Inmitten einer Welt, die sich in Sicherheit wähnt und ihren Geschäften und ihren Vergnügungen nachgeht (Lk 17,26.27), glaubt Noah, «als er einen göttlichen Ausspruch über das, was noch nicht zu sehen war, empfangen hatte», dem Wort Gottes, das das Gericht und die Vernichtung der sündigen Menschen ankündigt (1. Mo 6,13 usw.). Sein Glaube erfasst, was noch nicht zu sehen war: die Gerichte Gottes, und sie flössen ihm eine heilige Furcht ein. Gleichzeitig glaubt er, dass er durch das Mittel, das Gott ihm anbietet, der Vernichtung entgehen werde. Er baut die Arche, trotz des Spotts, den er dadurch auf sich ziehen konnte. Sein Glaube harrt aus, während der 120 Jahre der Langmut Gottes, ohne zu ermatten. Indem er so handelte, errettete er einerseits sich selbst und sein Haus; anderseits aber verurteilte er dadurch die Welt. Er war ein Prediger der Gerechtigkeit (2. Pet 2,5), der Gerechtigkeit Gottes gegen die Welt; er selbst aber wurde ein Erbe der Gerechtigkeit, die nach dem Glauben ist. Er glaubte Gott, wie Abraham, und dies wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet (Röm 4,3). Die Gerechtigkeit Gottes machte aus ihm einen Erben der neuen Welt, nachdem er durch Gnade vom Gericht verschont worden war, das der alten Welt ein Ende bereitete.
Zusammenfassend finden wir also in den sieben ersten Versen als Gegenstände und Ergebnisse des Glaubens:
- erstens die Schöpfung;
- dann, nach dem Sündenfall des Menschen, in einem Bild, die Erlösung.
- Darauf, als Frucht dieser Erlösung, einen himmlischen Wandel, der zum Himmel führt, und schliesslich
- ein auffallendes Zeugnis gegenüber der Welt, die dem Gericht entgegengeht, durch das hindurch, von Gott bewahrt, der Gerechte zum Erbteil einer neuen Welt gelangt.
Diese sieben Verse reden auch
- vom Glauben an das Wort Gottes;
- vom Glauben an das sühnende Opfer;
- vom Glauben, der mit Gott wandelt, der ein Belohner derer ist, die Ihn suchen; und
- vom Glauben, der zu einem Zeugnis von der Gerechtigkeit Gottes gegen eine schuldige Welt führt.
Man kann auch sagen:
- Abel ist ein Beispiel des Gläubigen, der durch das Opfer Christi erlöst ist;
- Henoch, das Bild des Gläubigen, der in dieser Weise erlöst, das Leben Gottes in der Welt lebt und in die Herrlichkeit entrückt wird, bevor das Gericht eintrifft.
- In Noah sehen wir dann das Bild des jüdischen Überrestes der letzten Tage, der durch die Gerichte hindurchgehen muss, aber von Gott darin bewahrt wird und so zum Tausendjährigen Reich gelangt.