Der Brief an die Hebräer (28)

Hebräer 12,18-24

Verse 18-24

Hier macht der Verfasser des Briefes einen treffenden Vergleich zwischen dem, was das Gesetz gab und den Segnungen, die Christus herbeigeführt hat. Der Gegensatz zwischen den beiden dient ihm als kräftige Begründung. «Denn», sagt er, um zu zeigen, wie unvernünftig und sträflich es wäre, das eine aufzugeben um zum anderen zurückzukehren. Es ist, wie wenn er zu den Hebräern, um sie zu ermuntern und anzuspornen, sagen würde: «Wollt ihr also zum Gesetz zurückkehren, das nichts als Schatten und Bilder bieten konnte, und euch unter seine Schrecken stellen, indem ihr dabei auf die Segnungen verzichtet, die die Gnade euch im Christentum bringt? Seht doch den Gegensatz zwischen eurem alten jüdischen Zustand und eurer christlichen Stellung unter der Gnade!»

«Denn ihr seid nicht gekommen» zum Feuer des Sinai, zu dieser furchteinflössenden Herrlichkeit, womit die Majestät Gottes sich umhüllte, die so furchtbar war, dass die Hörer seiner Stimme baten, «dass das Wort nicht mehr an sie gerichtet würde». Der Berg, der betastet werden konnte, bezeichnete die irdische Haushaltung, aber zu gleicher Zeit sollten sie diesem Berg, auf den Gott herabgestiegen war, unter Todesstrafe nicht nahen und ihn nicht berühren. Das Gesetz hielt den sündigen Menschen in der Entfernung, und wenn er Gott in diesem Zustand nahen wollte, bedeutete dies für ihn und für alles, was mit ihm zusammenhing, der Tod. So furchtbar war die Erscheinung, dass Mose selbst voll Furcht und Zittern war. Das wird im Bericht von 2. Mose 19 und 20 nicht erwähnt. Die Schrift stellt uns dort Mose in der Würde des Mittlers vor. Nachdem das Volk zu Mose gesagt hatte: «Rede du mit uns … Gott möge nicht mit uns reden, dass wir nicht sterben!», nahte sich Mose allein zum Dunkel, wo Gott war, und empfing seine Worte, um sie dem Volk zu überbringen (2. Mo 20,21.22; 5. Mose 18,16-18). Aber hier enthüllt uns der Heilige Geist, was im Herzen des Mannes vorging, der sich in der Gegenwart der göttlichen Majestät befand, eines Gottes, der sich in der ganzen Herrlichkeit seiner Heiligkeit und seiner Gerechtigkeit offenbarte.

«Sondern», sagt unser Brief, «ihr seid gekommen zum Berg Zion», im Gegensatz zum Sinai. Zion ist der Berg der Gnade. Er ist ein Bild von der Dazwischenkunft der erhabenen Gnade Gottes gegenüber Israel, das unter der Verantwortung des Gesetzes völlig versagt hat. Israel war verdorben; «Ikabod», d.h. «Nicht-Herrlichkeit» war über das Volk geschrieben, denn die Lade des HERRN war in die Hände der Feinde gefallen, und als sie zurückkehrte, blieb sie bei Abinadab, sozusagen in der Vergessenheit. Der HERR wohnte noch nicht in der Mitte seines Volkes (siehe 1. Sam 4-6; 7,1). In 2. Samuel 5 sehen wir dann David, den auserwählten König, den Mann nach dem Herzen Gottes, gegen die Jebusiter in Jerusalem ziehen und sich der Feste Zions bemächtigen, die dann zur Stadt Davids wurde. Die Lade wurde dorthin gebracht; der HERR, der in seiner Gnade das Königtum Davids aufgerichtet hatte, stellte auch das Volk in seinen Beziehungen zu Ihm selbst wieder her. Zion wurde zum Sitz der königlichen Macht, dort ist die Wohnung des HERRN, dort wird der Messias zum König gesalbt. Wenn die Könige der Erde sich eines Tages gegen Ihn erheben, sagt der HERR: «Habe ich doch meinen König eingesetzt auf Zion, meinem heiligen Berg!» (Ps 2,6). Das Buch der Psalmen ist voll von Hinweisen auf Zion, auch die Propheten reden davon; überall wird seine Schönheit, seine Vollkommenheit gerühmt; überall wird Zion als der Ort bezeichnet, wo der HERR wohnt und von woher die Segnung kommt (siehe Ps 48,3.12-14; 50,2; 110,2; Jes 2,1-4, usw.).

Alles, was in den Versen 22-24 unseres Kapitels beschrieben wird, ist eine Darstellung des Tausendjährigen Reiches, zu dem die hebräischen Gläubigen in geistlichem Sinn gekommen waren; also zukünftige, erhoffte Dinge, noch nicht aufgerichtet, aber wir gehören schon dazu. Nach Zion, dem Ort der Wohnung und der Ruhe Gottes auf der Erde, steigen wir im Geist bis zum himmlischen Jerusalem, der Stadt des lebendigen Gottes, empor. Zion ist der Sitz der Macht des Messias auf der Erde; aber der Herr, der Sohn des Menschen, hat Anspruch auf ein Erbe, dessen Grenzen das ganze Universum umspannen. (Ps 8; Heb 2,7.8; Eph 1,10; Phil 2,9-11).

Von diesem ausgedehnten Reich ist das himmlische Jerusalem, die Stadt des lebendigen Gottes sozusagen die Hauptstadt. Es ist die Stadt, die Grundlagen hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist. In Offenbarung 21 finden wir diese heilige Stadt, das neue Jerusalem, sowohl für das Tausendjährige Reich als auch für den ewigen Zustand. Es ist die Versammlung, die Kirche. Sie stellt dort das dar, was wir sein werden, während hier, im Hebräerbrief das himmlische Jerusalem der Wohnort ist, wo wir sein werden.

Wenn wir den ersten Abhang dieses Berges der Herrlichkeit hinaufsteigen, gelangen wir zum himmlischen Jerusalem. Wir haben also den Himmel erreicht, und sind jetzt in der Mitte seiner Bewohner. Zuerst finden wir hier die «Myriaden von Engeln, der allgemeinen Versammlung», dieser Wesen, die die ständigen Bewohner des Himmels sind: Sie sind vor dem Fall bewahrt geblieben und sind da in ihrer natürlichen Wohnung. Sie bevölkern die Welt, die unseren Augen unsichtbar ist. Wir finden sie in Offenbarung 5 rings um den Thron her: «Zehntausende mal Zehntausende und Tausende mal Tausende».

Wenn wir noch weiter hinaufsteigen, stellt uns diese wunderbare Szene einen besonderen Gegenstand vor: «Die Versammlung der Erstgeborenen, die in den Himmeln angeschrieben sind.»1 Da handelt es sich um die Kirche, um die Versammlung Gottes. Die, die sie bilden, sind nicht dort geboren; sie sind nicht Eingeborene wie die Engel. Sie sind Gegenstände der Ratschlüsse Gottes. Sie haben nicht nur den Himmel erreicht, sondern sind verherrlichte Erben und die Erstgeborenen Gottes, gemäss seinen ewigen Ratschlüssen, aufgrund derer sie in den Himmeln angeschrieben sind. Die Versammlung, aus Gegenständen der Gnade gebildet, jetzt schon in Christus berufen, gehört durch die Gnade dem Himmel an. Sie sind – wie die in Kapitel 11 erwähnten Glaubenszeugen des Alten Testaments – Gegenstände von Verheissungen, deren Erfüllung sie auf der Erde nicht empfangen haben, sondern erst im Himmel geniessen werden. Die Erstgeborenen haben zum Voraus kein anderes Vaterland als den Himmel. Ihr Bürgertum ist in den Himmeln (Phil 3,20). Die Verheissungen sind nicht an sie gerichtet; ihr Platz ist nicht auf der Erde. Gott selbst hat ihnen den Himmel bereitet; da und nirgendwo sonst hat Er ihre Namen angeschrieben. Ihr Platz ist der erhabenste im Himmel und ist über den Regierungswegen Gottes auf der Erde, die nach seiner Verheissung und nach dem Gesetz sind. Es ist die Versammlung, die den ersten Rang in den Ratschlüssen Gottes einnimmt und die in der Reihenfolge der Offenbarung zuletzt kommt (siehe Epheser 3).

Welch einen herrlichen Platz nimmt sie doch ein! Dieses Bild erhabenster Herrlichkeit, gegründet auf überreiche Gnade, führt uns zum Gipfelpunkt, zu Gott selbst, dem «Richter aller». Dort sehen wir Ihn also in einem anderen Charakter, denn der Gedanke der Regierung findet sich überall im Brief an die Hebräer. Gott wird dargestellt, als von oben her alles regierend und richtend, was sich unten befindet, ein Wesenszug, in dem Er überall im Alten Testament und in den Psalmen dargestellt wird.

Das führt uns sozusagen auf eine andere Stufe. Von Gott, dem Richter aller, gelangen wir zu einer anderen Klasse von glückseligen Bewohnern der himmlischen Herrlichkeit. Es sind die Geister der vollendeten Gerechten, die ihren Lauf vollendet und durch ihren Glauben in den Kämpfen überwunden haben. Gott, der Richter aller, hat sie als die Seinen anerkannt, bevor die himmlische Versammlung offenbart wurde. Sie waren treu in Bezug auf die Wege Gottes auf der Erde, ohne die Verwirklichung der Verheissungen empfangen zu haben, und jetzt erwarten sie in der Ruhe des Himmels die Auferstehung und die Herrlichkeit (Heb 11,39.40).

«Und zu Jesus, dem Mittler eines neuen Bundes.» Israel wird nicht aus dem Auge verloren. Von diesen Geistern der vollendeten Gerechten, die schon im Himmel sind, steigen wir hinab zum irdischen Volk, für das noch Segnungen in Bereitschaft gehalten werden; nicht mehr auf dem Grundsatz des Gesetzes und der Verantwortlichkeit des Menschen, sondern auf dem Grundsatz der Gnade. Gott wird mit Israel einen neuen Bund aufrichten, wie wir in Kapitel 10 gesehen haben. Ihrer Sünden und ihrer Ungerechtigkeiten wird Er nie mehr gedenken, und Er wird seine Gesetze in ihre Herzen geben und sie auf ihre Sinne schreiben. Es ist ein Bund der Gnade und der Vergebung, in dem alles von Gottes Seite kommt. Und Jesus ist der Mittler dieses neuen Bundes. Er war schon als solcher erschienen und hatte die Grundlage zu diesem Bund gelegt; Er hatte alles erfüllt, was zu dessen Aufrichtung notwendig war. Die gläubigen Hebräer waren nicht zum neuen Bund gekommen, der noch nicht aufgerichtet ist, sondern zu dem, der dessen Mittler ist und in dem die kommenden Segnungen für Israel und für die Erde vorbereitet und gesichert sind.

Schliesslich waren sie auch «zu dem Blut der Besprengung, das besser redet als Abel», gekommen. Das Blut Abels, das Kain vergossen hat, schrie von der Erde her zu Gott und verlangte Rache für das vergangene Verbrechen. Die Antwort war das ausgesprochene Urteil über den Mörder: «Wenn du den Erdboden bebaust, soll er dir fortan seine Kraft nicht geben; unstet und flüchtig sollst du sein auf der Erde» (1. Mo 4,10-12). Aber das Blut Christi, anstatt nach Rache zu schreien, redet von Gnade. Es erfleht Vergebung, selbst für die, die es vergossen haben (Lk 23,34); und aufgrund dieses Blutes werden die, die Feinde waren, versöhnt, eines Tages auch alle Dinge, in den Himmeln und auf der Erde (Kol 1,20-22).2

  • 1Beim Ausdruck «allgemeine Versammlung» ist das Wort im Urtext nicht dasselbe wie im Ausdruck «die Versammlung der Erstgeborenen». Der erste wurde benützt, um alle Staaten Griechenlands zu bezeichnen; der zweite wird für die Versammlung der Bürger eines besonderen Staates verwendet.
  • 2Als die Juden das Blut Christi vergossen, riefen sie aus: «Sein Blut komme über uns und unsere Kinder» (Mt 27,25). Das Blut des Christus schrie nicht um Rache gegen sie, sondern sie selbst haben freiwillig die Verantwortung ihrer Tat auf sich genommen, und auf ihre schuldigen Häupter ist die Rache herabgekommen. Wie Kain sind sie nun unstet und flüchtig auf der Erde.