Kapitel 5
Der inspirierte Verfasser setzt hier das grosse Thema des Priestertums Christi, das er im vorangegangenen Kapitel begonnen hat, fort. Er vergleicht sein Priestertum mit dem Aarons und macht dabei auf den Gegensatz der Person Christi und der von Aaron aufmerksam. Er zeigt die Herrlichkeit des Priestertums Christi, dessen unendliche Erhabenheit und Vollkommenheit gegenüber dem von Aaron, obwohl wir beim Voranschreiten im Studium des Kapitels in verschiedenen Punkten eine gewisse Übereinstimmung feststellen werden. Wie in den bisherigen Kapiteln die Propheten, die Engel, der erste Mensch, Mose, Josua, einer um der andere vor der überragenden Erhabenheit Christi zurücktreten, so muss auch hier in Kapitel 5 und den folgenden, Aaron und das levitische Priestertum mit seinen Opfern vor dem herrlichen Priestertum und dem vollkommenen Opfer Christi verschwinden. Sie waren ja nur Schatten und Bilder.
Vers 1
Aaron war ein aus den Menschen genommener Hoherpriester, wie auch alle, die ihm in diesem Amt folgten. Christus war wohl ein wirklicher Mensch und musste ein solcher sein, um sein Werk erfüllen und um mit uns Mitleid haben zu können; aber Er war nicht aus den sündigen Menschen genommen. Er war heilig, unschuldig, unbefleckt, abgesondert von den Sündern (Heb 7,26). Wir sehen hier also sowohl Übereinstimmung wie auch Gegensätze.
Jeder Hohepriester wird für die Menschen bestellt in den Sachen mit Gott, das heisst, in den Beziehungen der Menschen zu Gott, hauptsächlich im Blick auf die Vergebung der Sünden, die Aufrechterhaltung des Genusses und die Wiederherstellung der Gemeinschaft mit Gott. Dafür sollte er «sowohl Gaben als Schlachtopfer für Sünden darbringen», wie wir dies im 3. Buch Mose beschrieben finden. Es wird hier unterschieden zwischen «Gaben», den Brand- und Friedensopfern, und den «Opfern für die Sünde». Aber diese Gaben und Schlachtopfer waren alle, wie wir es im weiteren Verlauf der Betrachtungen sehen werden, Bilder von der vollkommenen Darbringung und dem Schlachtopfer Jesu Christi (siehe Eph 5,2).
Vers 2
Der aus den Menschen genommene Hohepriester kannte ihre Schwachheiten aus Erfahrung und war daher fähig, mit ihnen Nachsicht zu haben. Auch Christus hat als Mensch unsere Schwachheiten gekannt, und Er vermag, wie wir gesehen haben, mit uns Mitleid zu haben. Hierin sind sie in Übereinstimmung. Aber Aaron war, wie auch die übrigen, unwissend und irrend; deshalb konnte er mit den Irrenden Nachsicht üben. Christus, der heilig, unschuldig und unbefleckt ist, war nicht so; Er war vollkommener Mensch und Sohn Gottes. In diesem steht Er zu Aaron im Gegensatz.
Vers 3
Daher mussten Aaron und seine Nachfolger, und dies macht den Gegensatz sehr deutlich, für sich selbst opfern für die Sünden. Aus dem zweiten und dritten Buch Mose sehen wir, dass sie zu ihrer Einweihung und auch am grossen Versöhnungstag durch Opfer für die Sünden geheiligt werden mussten, um in das Heiligtum eintreten zu können, (2. Mose 29; 3. Mose 16,11). Und in 3. Mose 4 ist vermerkt, dass er opfern musste, wenn er gesündigt hatte. Nichts von alledem könnte man auf Christus anwenden. Er hat sich selbst geopfert; aber es geschah um unseretwillen.
Vers 4
Ein anderer Wesenszug des Hohenpriesters war der, dass er sich nicht selbst die Ehre nahm, «sondern er wird von Gott berufen wie auch Aaron». In 2. Mose 28 wird uns berichtet, wie Gott Aaron und seine Söhne berief: «Und du», sagte der HERR zu Mose, «sollst dir nahen lassen deinen Bruder Aaron und seine Söhne mit ihm, aus der Mitte der Kinder Israel, um mir den Priesterdienst auszuüben.» Wir sehen auch am Beispiel von Korah und von Ussija, welch ein Verbrechen es war, diese Ehre sich selbst anzumassen, und wie sie dafür gerichtet wurden (4. Mo 16; 2. Chr 26,16-21). Die Tatsache, dass der Hohepriester von Gott bestellt wurde, bürgte dem Volk dafür, dass auch dessen Opfer angenommen würden.
Verse 5.6
Wie Aaron, so hat auch Christus sich nicht selbst verherrlicht, um Hoherpriester zu werden; Er hat diese Ehre von Gott empfangen. Aber die in den beiden hier angeführten Versen des Alten Testaments enthaltene göttliche Erklärung macht anderseits auf weitere grosse Gegensätze zwischen dem Hohepriestertum Aarons und dem Hohepriestertum Christi aufmerksam. Im Priestertum Christi sind Wesenszüge, die sich nicht auf die levitische Ordnung anwenden lassen. Sie zeigen, dass es unendlich vorzüglicher ist: «Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt», eine Anführung aus dem zweiten Psalm, die uns die herrliche Würde dessen vor die Augen führt, der zum Hohenpriester eingesetzt und zu diesem Zweck durch Gott selbst verherrlicht wurde: «Du bist Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks.» Diese Worte sind dem 110. Psalm entnommen und zeigen uns die eigentliche Einsetzung Christi in dieses Amt durch den Mund Gottes selbst. Aber gleichzeitig sehen wir darin den Gegensatz zwischen seinem Priestertum und dem von Aaron. Im Himmel, als Er verherrlicht war, wurde Er als Hoherpriester eingesetzt, und nicht auf der Erde, wie Aaron. Er übt das Amt nicht als Nachfolger Aarons aus, sondern nach einer neuen Ordnung, nach der Ordnung Melchisedeks. Das ist ein königliches Priestertum, das andere Züge aufweist als das levitische, worauf der Schreiber besonders im 7. Kapitel hinweist; es ist ein immerwährendes Priestertum, für die Ewigkeit, und ist nicht zeitlich begrenzt, wie das von Aaron.
Vers 7
Diese Verse zeigen uns den Weg, den Christus beschritten hat, um «vollendet», das heisst, geeignet zu werden, um für die Seinen der Urheber ewigen Heils zu sein, wie auch ihr Hoherpriester in dem Himmel.
«In den Tagen seines Fleisches», als Er hier auf der Erde Mensch war, hat Er an Blut und Fleisch teilgenommen, um leiden und sein Leben für uns hingeben zu können. Damals war es, dass Er mit starkem Schreien und Tränen sowohl Bitten als Flehen dem darbrachte, der Ihn aus dem Tod zu erretten vermochte. Er hatte unsere Sache an die Hand genommen; und nun musste Er dafür die Folgen tragen. Er hat dabei den ganzen Schrecken des Zorns und Gerichts Gottes gegen die Sünde empfunden, die ganze Bitterkeit des Kelchs, der Ihm dargeboten wurde. Schon in Johannes 12,27 rief Er angesichts dieser Stunde des Todes, durch die Er gehen sollte: «Jetzt ist meine Seele bestürzt, und was soll ich sagen? Vater, rette mich aus dieser Stunde!» Und in Gethsemane, als der feierliche Augenblick gekommen war, hören wir Ihn dreimal in ringendem Gebet, jedoch in vollkommener Abhängigkeit und Unterwerfung zum Vater flehen: «Abba, Vater, alles ist dir möglich; nimm diesen Kelch von mir weg! Doch nicht, was ich will, sondern was du willst!» (Mk 14,36). Wie lassen doch diese Worte erkennen, dass für Ihn, den Fürsten des Lebens, der Gedanke so schrecklich war, dem Tod, dem Gericht Gottes über die Sünde begegnen zu müssen und dabei als der vollkommene und gerechte Mensch von Gott verlassen zu werden! Lukas beschreibt uns diese Herzensangst in seinem Kampf mit den Worten: «Als er in ringendem Kampf war, betete er heftiger. Es wurde aber sein Schweiss wie grosse Blutstropfen, die auf die Erde herabfielen» (Lk 22,44).
Er nahm den Kelch im Gehorsam an; seine Seele wurde gestärkt, und Er schritt seinen Feinden entgegen (Joh 18,4). Aber in diesen drei Stunden der Finsternis auf dem Kreuz, als Er den Kelch trank, kam noch der Schmerzensschrei aus seinem Mund: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» Die erschütternden Szenen von Gethsemane und Golgatha sind die inspirierte Auslegung dieser Worte des Hebräerbriefes, oder vielmehr hat sie der Schreiber vor seinen Augen.
Er brachte seine Gebete dem dar, der Ihn aus dem Tod zu erretten vermochte: «Vater, alles ist dir möglich», und Er wurde «erhört». Wie es in Psalm 22 zum Voraus ausgedrückt wurde, rief Er aus: «Rette mich aus dem Rachen des Löwen!», und bald darauf konnte Er sagen: «Du hast mich erhört von den Hörnern der Büffel.» Durch die Auferstehung – «aus den Toten auferweckt … durch die Herrlichkeit des Vaters» (Röm 6,4) – ist Er um seiner Frömmigkeit willen erhört worden; Gott hat auf seinen Schrei geantwortet, und Er konnte sagen: «Denn meine Seele wirst du dem Scheol nicht überlassen, wirst nicht zugeben, dass dein Frommer die Verwesung sehe» (Ps 16,10).