Der Brief an die Hebräer (26)

Hebräer 12,5-13

Verse 5.6

Der Apostel entwickelt jetzt also den so wichtigen Gegenstand der Züchtigung Gottes gegenüber seinen Kindern. Man hat die Neigung, unter Züchtigung nur Strafen zu verstehen; aber die Züchtigung umfasst alles, was zur Erziehung beiträgt, nicht nur die Rute. Die Züchtigung umfasst alles, was in dieser wunderbaren Erklärung enthalten ist: «Er zieht seine Augen nicht ab von dem Gerechten» (Hiob 36,7).

In den Versen 5 und 6 (Zitate aus Sprüche 3,11.12), wie auch in den folgenden Versen, wird zunächst die Tatsache erwähnt, dass die Züchtigung eine Folge des Kindesverhältnisses zu Gott ist, in dem sich der befindet, der durch sie geübt wird. Die Leiden, die er erduldet, haben also nicht den Charakter einer Strafe, sondern sind das Zeichen zärtlichster Liebe vonseiten Gottes. Das, was Leiden verursacht geht nicht aus Zorn vonseiten Gottes hervor, daher der Ausdruck «Züchtigung» oder «Zurechtbringung». Er ist ein weiser Vater, der sein Kind erzieht, indem Er es liebt und weil Er es liebt.

Nachdem dies festgehalten ist, werden wir ermahnt, uns vor zwei Gefahren zu hüten:

  1. Die eine ist die, über die uns auferlegten Prüfungen in oberflächlicher Weise wegzugehen und nicht zu beachten, dass Gott uns durch diese etwas sagen, uns tadeln und uns bilden will. Wir können die Züchtigung des Herrn aber auch dadurch geringachten, dass wir versuchen, die Trübsale in unerschütterlichem Gleichmut hinzunehmen.
  2. Die andere Gefahr besteht darin, uns entmutigen und uns vom Gewicht der Prüfungen erdrücken zu lassen, als ob das, was mit uns geschieht, nicht aus der vollkommenen Liebe unseres Vaters zu uns hervorgekommen wäre: «Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken» (Röm 8,28). Beachten wir im Vorbeigehen, dass der sechste Vers einen Unterschied hervorhebt zwischen der Züchtigung, die Erziehung bezweckt, und der Rute, die den, der einen Fehler begangen hat, dadurch zurecht bringt, dass sie ihn geisselt: «Wen der Herr liebt, den züchtigt er; er geisselt aber jeden Sohn, den er aufnimmt.»

Verse 7.8

Unter der väterlichen Regierung Gottes erduldet man Leiden, aber nicht vonseiten eines zornigen Vaters. Die Schrift kennt den Ausdruck «der Zorn des Vaters» nicht. Wir sind der Pflege der väterlichen Liebe unseres Gottes teilhaftig und stehen nicht unter der Rute seines Zorns. Die Züchtigung, der wir unterstehen, ist ein Beweis unserer Sohnesbeziehung. Ein Bastard hat im väterlichen Haus keinen Platz und keinen Anteil an der väterlichen Pflege, die zu diesem Haus gehört, sondern nur wir, die die Familie Gottes bilden.

Vers 9

Die Väter nach dem Fleisch, denen wir unser natürliches Leben verdanken, haben uns gezüchtigt und wir scheuten sie. Während der kurzen Zeit unserer Kindheit und unserer ersten Jugend waren sie unsere Erzieher, und sie züchtigten uns nach ihrem Gutdünken. Ihre Fürsorge konnte nachlassen und war nicht gleichmässig. Die Erziehung, die sie uns gaben, war durch mancherlei Unvollkommenheiten gekennzeichnet: Ihre Absichten konnten irrig sein; sie konnten sich täuschen in der Wegweisung, die sie uns gaben. Bei Gott, dem «Vater der Geister», ist es ganz anders. Dieser Ausdruck steht im Gegensatz zu: «die Väter nach dem Fleisch» (oder: «die Väter unseres Fleisches»). Diese haben uns gezeugt; aber unser Geist, der unser Leben ausmacht, durch den wir mit Gott in Verbindung sind, den haben wir von Gott. «Der Geist kehrt zu Gott zurück, der ihn gegeben hat» (Pred 12,7). Er ist der «Gott der Geister alles Fleisches» (4. Mo 16,22; 27,16). In diesem Sinn ist es, dass Er «Vater der Geister» genannt wird; von Ihm haben sie ihren Ursprung, so wie unsere Körper unsere Väter nach dem Fleisch zum Ursprung haben. Wenn wir also jene gescheut haben, «sollen wir uns nicht viel mehr dem Vater der Geister unterwerfen», um uns unter seine Züchtigung zu beugen? So unterworfen, «werden wir leben».

Diese letzten Worte können zweierlei Sinn haben. Einerseits entwickelt die Züchtigung praktisch das geistliche Leben in der Seele, die durch sie geübt ist und die sich ihr mit Vertrauen in den unterwirft, der sie mit Weisheit und Liebe gebraucht (siehe Röm 5,3-5). Man lebt durch diese Dinge, wie Hiskia sagt: «Ich will sachte wallen alle meine Jahre wegen der Betrübnis meiner Seele. O Herr, durch dieses lebt man, und in jeder Hinsicht ist darin das Leben meines Geistes» (Jes 38,15.16). – Anderseits kann die Züchtigung bis zum Tod des Körpers führen. Hiob 36,7-12, redet von der Züchtigung Gottes gegenüber dem Gerechten. Nachdem Elihu gesagt hat: «Er zieht seine Augen nicht ab von dem Gerechten», fährt er fort: «Und wenn sie mit Fesseln gebunden sind, in Stricken des Elends gefangen werden, dann macht er ihnen ihr Tun und ihre Übertretungen kund, dass sie sich trotzig gebärdeten; und er öffnet ihr Ohr der Zucht und spricht, dass sie vom Frevel umkehren sollen. Wenn sie hören und sich unterwerfen, so werden sie ihre Tage im Wohlergehen verbringen und ihre Jahre in Annehmlichkeiten. Wenn sie aber nicht hören, so rennen sie ins Geschoss und verscheiden ohne Erkenntnis.» Die Unterwerfung unter die Zucht verhütet also dieses schlimme Ende: «Wir leben», um die gesegnete Frucht dieser Prüfung zu geniessen, durch die uns ein liebender Vater nach seiner vollkommenen Einsicht gehen lässt.

Vers 10

Diese Frucht wird uns in den Versen 10 und 11 gezeigt. Unsere Väter nach dem Fleisch, die uns für wenige Tage züchtigten, taten es nach ihrem Gutdünken. Das Ziel ihrer begrenzten Ansichten entsprach nicht immer dem, was für uns wahrhaft gut gewesen wäre, oder sie erreichten das Ziel nicht, da sie nicht die richtigen Mittel anzuwenden wussten. Unser Gott, der Vater der Geister, sucht unser wahres Wohl, will uns zu einer Glückseligkeit führen, die ausserhalb und über allem steht, was die Erde anbieten kann. Er züchtigt uns «zum Nutzen», mit einer vollkommenen Weisheit, indem Er die geeigneten Mittel kennt und wählt, um uns an das Ziel zu bringen, das Er sich im Blick auf uns gesetzt hat; es wird Ihm nicht zu viel, sie immer wieder anzuwenden und so alle Dinge zum Guten mitwirken zu lassen. Die Prüfungen sind für jeden verschieden, aber sie sollen jeden zum grossen Ziel der Züchtigung führen: «Damit wir seiner Heiligkeit teilhaftig werden.»

Die Heiligkeit Gottes, welch ein Gedanke! Die Absonderung von allem Bösen, weil Gott das absolut Gute ist; seine unveränderliche Reinheit, die von keinem Schmutz angetastet werden kann; sein Licht, das keine Finsternis zu verdunkeln vermag: Das ist die Heiligkeit, der sittliche Zustand, an dem wir nach Gottes Willen teilhaben sollen! Und Er züchtigt uns, um uns von allem zu befreien, was ein Hindernis zum wachsenden Genuss dieses Zustandes bilden könnte. Ist dies nicht ein offenbarer Beweis seiner liebenden Fürsorge für uns? In Christus besitzen wir vor Gott eine Stellung vollkommener Heiligkeit: «Heilig und untadelig vor ihm in Liebe» (Eph 1,4). Aber Er will auch, dass wir Ihm praktisch gleichen, dass unser sittlicher Zustand dem, was Er ist, entsprecht. Darin liegt für uns die Glückseligkeit; wir finden sie nur in seiner Heiligkeit, in der Nähe des heiligen und seligen Gottes. Welche Gnade, dass seine Wege der Züchtigung ein solches Ziel für uns verfolgen! Dass wir uns ihnen doch allezeit in demütigem Vertrauen unterzögen!

Vers 11

Unser Gott weiss, dass diese schmerzlichen Übungen seiner väterlichen Zucht für uns kein Gegenstand der Freude sein können, während wir durch sie hindurchgehen. Wenn wir sie nicht empfänden, wenn sie nicht Traurigkeit hervorbrächten, welche Früchte könnten sie dann bringen? Der Christ ist nicht ein Stoiker, der sich in hochmütigem, unerschütterlichem Gleichmut über den Schmerz wegsetzt. Er fühlt die Schläge, aber er kennt die Hand, die sie austeilt; und indem er sie erduldet, blickt er auf das gesegnete Ergebnis, das die Folge davon sein wird. Wenn unser Eigenwille einmal gebrochen ist und wir erfasst haben, dass alle Dinge zu unserem Guten mitwirken, dann ist die friedsame Frucht der praktischen Gerechtigkeit, die Verwirklichung dieser Heiligkeit, deren wir teilhaftig gemacht sind, in dem Leben hervorgebracht. Die Frucht der Züchtigung für die, die durch sie geübt sind, ist also ein friedsamer Zustand der Seele in der Unterwerfung unter den Willen Gottes und in einem Wandel der Absonderung für Ihn. Das Böse wühlt auf und macht unglücklich: «Kein Friede den Gottlosen! spricht mein Gott!» (Jes 57,21). Aber das Gute, die Ausübung der Gerechtigkeit macht friedsam und glücklich: «Das Werk der Gerechtigkeit wird Frieden sein und der Ertrag der Gerechtigkeit Ruhe und Sicherheit in Ewigkeit» (Jes 32,17). Gebe der Herr, dass wir, wenn wir durch Prüfungen gehen, nie das gesegnete Ziel aus den Augen verlieren, das Er für uns verfolgt: Er will uns befreien, uns von allem reinigen, was ein Hindernis für den vollen Genuss seiner Gegenwart und seiner Gemeinschaft sein könnte!

Vers 12

Hier finden wir wieder ein «darum». Der Verfasser, der soeben die grossen Wahrheiten bezüglich des gesegneten Zwecks der Prüfung vor die Blicke der Leser gestellt hat, zieht daraus die folgende Ermunterung: Da alles, was uns auferlegt ist, aus der liebenden Hand des Vaters kommt, können wir Mut fassen, «Darum richtet auf die erschlafften Hände und die gelähmten Knie.» Das war die Ermahnung, die der Heilige Geist durch den Mund Jesajas an Israel richtete, indem Er ihnen gleichzeitig den Segen ankündigte, der kommen würde, wenn Gott sie retten wird. Wie war doch dieses Zitat für die Hebräer, die die Schriften kannten, dazu angetan, ihren Geist zu beleben! Sie konnten unter der gegenwärtigen Züchtigung des Vaters auf den Segen blicken, der darauf folgen würde.

Die erschlafften Hände haben vielleicht Bezug auf das Gebet, in Verbindung mit dem Wort aus 1. Tim 2,8: «Ich will nun, dass die Männer an jedem Ort beten, indem sie heilige Hände aufheben.» Es ist eine Erfahrungstatsache, dass man unter einer Züchtigung, deren Zweck man nicht begreift, im Gebet nachlassen kann, und dass dann die Knie gelähmt werden und der christliche Wandel kraftlos und schwankend wird. Die erschlafften Hände und die gelähmten Knie sind für den Körper das Symptom einer Entkräftung, einer Schwächung des Systems. Als Bild auf die Seele angewandt, bezeichnen diese Ausdrücke ebenfalls Schwachheit, Erschlaffung, hervorgebracht durch Zweifel, durch Mangel an Glauben und an Vertrauen in Gott. Dies ist ein krankhafter Seelenzustand, der gefährlich werden kann, wenn nicht ein durchgreifendes Mittel angewandt wird.

Vers 13

Der Brief zeigt uns dieses Mittel. Es besteht nicht darin, in passiver Weise auf einen Wandel der Dinge zu warten, sondern sich mit Bestimmtheit auf das zu stützen, was vorher bezüglich der liebenden Fürsorge Gottes gesagt worden ist. Nur so wird man fähig, die erschlafften Hände und gelähmten Knie aufzurichten. Ein neues Leben durchpulst die Seele, wenn sie Gott und seine Wege uns gegenüber durch den Glauben ergreift; sie findet die Stärke wieder, die «gerade Bahn macht für unsere Füsse» (Vers 13), in der man mit festem Schritt, ohne zu wanken, vorangeht. Die «gerade Bahn» findet sich in den Wegen, durch die uns das Wort Gottes führt, getrennt von der Sünde, von der Welt und dem Haschen nach den Vorteilen, die die Erde bieten kann. Es sind Wege, in denen man geradeaus blickt auf die göttlichen und himmlischen Dinge, ohne Zögern und Ablenkung, ohne die Neigung, die Erde mit dem Himmel, die Welt mit Christus zu verbinden. Das sind die Wege des Glaubens. In Sprüche 4,25-27 lesen wir: «Lass deine Augen geradeaus blicken und deine Wimpern gerade vor dich hinschauen. Ebne die Bahn deines Fusses, und alle deine Wege seien gerade; biege nicht ab zur Rechten noch zur Linken, wende deinen Fuss ab vom Bösen.»

Wer so durch alle Schwierigkeiten mutig hindurchgeht und sich durch alles hindurch ein fröhliches Herz bewahrt, bezeugt dadurch eine wirkliche Gemeinschaft mit Gott und ist eine Ermunterung für die Schwachen, so dass die, die hinkend nachfolgen, sich nicht abwenden, sondern geheilt werden. Sie werden erkennen, dass es auch ihr Vorrecht ist, auf der «geraden Bahn» zu schreiten, wo das Herz in weitem Raum ist und die Segnungen überfliessen. Ein gutes Beispiel ist ein besseres Anregungsmittel als der Tadel.