Kapitel 10
Im ersten Teil des Kapitels (Verse 1-18) wird uns Christus hauptsächlich als das heilige und vollkommene Opfer vorgestellt. Alle unter dem Gesetz dargebrachten Opfer waren nur Bilder davon; sie vermochten keineswegs Sünden wegzunehmen und folglich auch nicht das Gewissen zu reinigen. Die Darbringung Christi als Opfer ohne Fehl und Flecken war schon der Gegenstand des neunten Kapitels, aber das zehnte Kapitel zeigt uns vor allem die grossen Ergebnisse des Opfers Christi. Beim Lesen dieser Kapitel ist es gut, die Augen auf das gerichtet zu halten, was sich am grossen Versöhnungstag in Israel zutrug. Wir haben hier die inspirierte Erklärung dafür, was die Zeremonien jenes Tages bedeuteten. «Jetzt aber ist er einmal in der Vollendung der Zeitalter offenbart worden zur Abschaffung der Sünde durch sein Opfer», wird am Ende des neunten Kapitels gesagt. Was waren also die unter dem Gesetz dargebrachten Opfer? Das wird uns nun gesagt werden.
Vers 1
«Denn da das Gesetz einen Schatten der zukünftigen Güter, nicht der Dinge Ebenbild selbst hat.» Die «zukünftigen Güter» umfassen alle Segnungen, die Christus bringen sollte. Das Gesetz konnte sie nicht in ihrer herrlichen Wirklichkeit darstellen; sie finden sich nur in Christus. Das Ebenbild der Dinge ist das, was diese in Wirklichkeit sind, im Gegensatz zum Schatten, der wohl deren Existenz anzeigt, aber sozusagen nur die Umrisse andeutet. Gemäss dem Gesetz sollten die Opfer «alljährlich» dargebracht werden, was unsere Gedanken zum grossen Versöhnungstag zurückführt, aber sie vermochten die Hinzunahenden nicht vollkommen zu machen. Vollkommen machen ist dasselbe Wort wie «vollendet werden», das wir in Kapitel 5,9 finden. Es hat die Bedeutung: für eine Sache völlig geeignet sein. Wer Gott naht, muss in einem Zustand sein, der ihm erlaubt, dies zu tun; keinerlei Frage bezüglich seines Zustandes vor Gott darf erhoben werden können; er muss «vollendet», «vollkommen gemacht» worden sein, völlig geeignet, in der heiligen Gegenwart Gottes zu bestehen. Das aber konnten die unter dem Gesetz dargebrachten Opfer für die sündigen Menschen nicht zustande bringen. Dies wird in den folgenden Versen begründet.
Verse 2-4
Hätten diese Opfer zum Ergebnis geführt, die Hinzunahenden zu «reinigen», ihre Sünden für immer wegzutun, so dass sie kein «Gewissen mehr von Sünden» gehabt hätten, so wäre die Darbringung weiterer Opfer nicht mehr nötig gewesen. Aus diesen Ausdrücken «gereinigt», «kein Gewissen mehr von Sünden haben», ersehen wir, was es bedeutet, «vollkommen gemacht» zu sein. Der Mensch ist durch seine Sünden verunreinigt; um Gott zu nahen, muss er davon gereinigt werden; Gott darf keine mehr auf ihm sehen können. Noch mehr, es ist auch nötig, dass der Mensch in der Gegenwart Gottes weiss – wenn er sich dort wohl fühlen soll – dass seine Sünden getilgt sind, es ist nötig, dass er «kein Gewissen von Sünden» mehr hat und nichts ihn anklagt. Das ist «vollkommen sein». Glücklicher Zustand! Aber das Gesetz konnte nicht zu diesem Ziel führen. Im Gegenteil, die Tatsache, dass die Opfer alljährlich dargebracht werden mussten, erinnerte daran, dass die Sünde immer noch da war: es war «ein Erinnern an die Sünden». Denn, sagt der Apostel, «unmöglich kann Blut von Stieren und Böcken Sünden wegnehmen». Der fromme Israelit mochte am Abend des grossen Versöhnungstages in seinem Gewissen Erleichterung empfinden; aber am folgenden Tag schon begann sein Schuldkonto von neuem zu wachsen. Das Gewissen war nicht für immer gereinigt; die Wirksamkeit der Opfer dauerte nicht an: sie waren ja nur Schatten der zukünftigen Güter. Diese Güter werden nun mit dem fünften Vers eingeführt, der uns das einzige wahre Opfer zeigt.
Verse 5-9
Aus dieser unbedingten Unfähigkeit der nach dem Gesetz dargebrachten Opfer, die Hinzunahenden vollkommen zu machen, ergibt sich die Notwendigkeit eines anderen Opfers, das diese Wirksamkeit besitzt. Und gerade ein solches war in den Ratschlüssen Gottes vorgesehen. «Darum, als er in die Welt kommt, spricht er: ‹Schlachtopfer und Speisopfer hast du nicht gewollt, einen Leib aber hast du mir bereitet.›» Wer ist dieser, der so spricht? Es ist Christus, der durch den Mund Davids im Geist redete. Der Heilige Geist stellte zum Voraus fest, was Christus beim Eintritt in diese Welt als den Zweck seines Kommens auf diese Erde als Mensch bezeichnen würde. «Einen Leib hast du mir bereitet» – das war die erste Notwendigkeit, um den Willen Gottes erfüllen zu können. Es war nötig, dass Er Mensch wurde. Beachten wir, dass seine Fleischwerdung Gott zugeschrieben wird, nicht Ihm selbst, denn in allem ist Er der Knecht, der abhängige Mensch. In Psalm 40,7 lesen wir: «Ohren hast du mir bereitet»,1 ein Ausdruck, der die Stellung des gehorsamen Knechtes bezeichnet, die Christus eingenommen hat. Zu diesem Zweck musste Er Mensch werden, und darum sagt der Heilige Geist: «Einen Leib hast du mir bereitet», indem Er die Übersetzung der Septuaginta anwendet, die den wahren Sinn wiedergibt.
Christus, der als Mensch auf die Erde gekommen ist, sagte beim Eintritt in die Welt: «Schlachtopfer und Speisopfer hast du nicht gewollt» … «an Brandopfern und Opfern für die Sünde hast du kein Wohlgefallen gefunden. Da sprach ich: Siehe, ich komme (in der Rolle des Buches steht von mir geschrieben), um deinen Willen, o Gott, zu tun.» Wir finden im Alten Testament mehr als eine Stelle, in der Gott erklärt, dass Er kein Wohlgefallen habe an Schlachtopfern und Brandopfern, sondern nur an der Erfüllung seines Willens.2 Aber welcher Mensch vermochte diesen Willen zu erfüllen und wer konnte dieses vollkommene Opfer seiner selbst darbringen, das Ihm hätte wohlgefällig sein können und so beschaffen war, dass es auch ein Opfer zur Tilgung der Sünde sein konnte? Christus allein vermochte es zu tun; Er allein konnte sagen: «Siehe, ich komme, um deinen Willen, o Gott, zu tun», diesen Willen, der darin bestand, ein für alle Mal die Frage der Sünde zu lösen, damit Gott in Gerechtigkeit schuldige Menschen erretten konnte. Und nur dieses Ziel war die Erfüllung der Ratschlüsse Gottes. Es war in der Rolle des Buches von Ihm geschrieben. Christus, Mensch geworden, um Gott zu verherrlichen, war der grosse Gegenstand der göttlichen Ratschlüsse. Welch ein Vorrecht, sozusagen Zeugen dieser Unterredung sein und wahrnehmen zu dürfen, wie sich Christus in den Tiefen der Gottheit anbietet zu kommen, um den Willen Gottes zu tun, in der Hingabe seiner selbst. Der Heilige Geist beharrt auf der Unfähigkeit der gemäss dem Gesetz dargebrachten Opfer, dem zu genügen, was Gott forderte. Er nennt die vier Arten:
- Brandopfer und
- Speisopfer,
- Friedensopfer und
- Sündopfer,
alle vier Vorbilder von Christus, wie wir wissen;3 dann setzt Er sie alle beiseite, um den zu zeigen, in dem sie ihre Verwirklichung gefunden haben: «Siehe, ich komme, um deinen Willen zu tun.» Und so nimmt Er das Erste weg, damit Er das Zweite aufrichte. Die erste Ordnung der Opfer führte keineswegs dazu, die Hinzunahenden vollkommen zu machen; ihr Gewissen war nicht gereinigt. Die zweite Ordnung der Dinge ist in dem einzigen Opfer Christi zusammengefasst, das ein vollkommenes und bleibendes Ergebnis einführte. Und dieses einzige Opfer ist die Frucht des vollkommenen Gehorsams des Herrn!
Vers 10
Wir sind folglich mittels des Opfers Jesu Christi geheiligt, für Gott abgesondert und gerettet. In seinem Leib, den Gott gebildet hatte, war Er gekommen, den Willen Gottes zu tun, dessen Höhepunkt das vollkommene Opfer war: Christi Tod am Kreuz. Beachten wir ferner, dass Er ein für alle Mal geopfert wurde; dieses Opfer genügt für immer; es muss, im Gegensatz zu dem nach dem Gesetz dargebrachten Opfer, nicht wiederholt werden. Die Heiligung, die Absonderung, die sich daraus ergeben, sind also auf immer vollkommen. Welche Gnade für die Gläubigen! Es handelt sich hier nicht um eine praktische Heiligung wie in Kapitel 12,14; sondern um eine Absonderung für Gott, aufgrund des Opfers Jesu Christi.
Verse 11-14
Der Gegensatz zwischen dem jüdischen und dem christlichen System wird in dem hier gemachten Vergleich fortgesetzt, aber jetzt hinsichtlich der Wirksamkeit der Priester. Unter dem Gesetz hielten sich die Priester, in Ausübung des ihnen auferlegten Dienstes, täglich vor dem Altar auf, indem sie fortwährend Opfer darbrachten, die niemals Sünden wegnehmen konnten, Ihr Dienst war unaufhörlich – ein Zeichen dafür, dass noch kein vollkommenes Opfer geschehen war. Christus hat im Gegensatz dazu ein einziges Opfer für die Sünden dargebracht, aber ein Opfer, das völlig genügend war, um die, die Gott angehörten, ohne Flecken vor Ihn hinzustellen. Es ist ein Opfer von bleibendem Wert und ewiger Wirkung. Daher hat Er sich gesetzt – ein Kennzeichen der Ruhe nach vollbrachtem Werk – auf immerdar gesetzt. Es ist ein Werk, das nicht wiederholt werden muss, weil es völlig genügend ist. Und Er hat sich zur Rechten Gottes gesetzt, ein Zeichen der vollkommenen Annahme, nachdem Er den Willen Gottes völlig getan hat. Welche Sicherheit für den Gläubigen, unseren grossen Hohenpriester droben in dieser Stellung der Herrlichkeit zu sehen!
Christus hat sich im Blick auf sein Werk der Errettung auf immerdar gesetzt; aber Er wird sich erheben, wenn Er kommen wird, um an seinen Feinden Rache zu nehmen. Seit dem Augenblick, wo Er als Hoherpriester in den Himmel eingegangen ist, wartet Er, «bis seine Feinde hingelegt sind als Schemel seiner Füsse», wie es schon im 110. Psalm angekündigt wurde. Welch ein feierlich ernster Gegensatz! Für die Gläubigen, für seine Freunde – eine vollkommene Befreiung; für die aber, die Ihn verworfen und sich so zu seinen Feinden gemacht haben – die Erwartung eines schrecklichen Gerichts!
Die treuen Hebräer konnten sich sagen: Der Messias ist gekommen und wir haben geglaubt; weshalb ist es nun so, dass wir verfolgt werden und unsere Feinde triumphieren? Der Heilige Geist zeigt ihnen einerseits, dass durch das vollkommene Opfer Christi und sein Sitzen zur Rechten Gottes ihr Teil gesichert ist, anderseits aber auch den zukünftigen, schliesslichen Triumph Christi und der Seinen über alle ihre Feinde. Lesen wir in diesem Zusammenhang nur den ganzen wunderbaren 110. Psalm!
Nachdem der Heilige Geist bezüglich der Zukunft diese Zusicherung gegeben hat, gibt Er auch für die Gegenwart den für alle Gläubigen so kostbaren Grund an, weshalb sich Christus jetzt in der Ruhe droben gesetzt hat. Es ist deshalb, weil Er «mit einem Opfer hat er auf immerdar die vollkommen gemacht, die geheiligt werden.» Das Opfer, nämlich das des Leibes Jesu Christi, ist vollkommen, es muss nicht wiederholt werden; daher hat Er sich auf immerdar gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe. Die, die geheiligt, für Gott abgesondert sind, bleiben es aufgrund dieses Opfers für immer (Vers 10). Bezüglich ihrer Stellung vor Gott hat das Werk Christi ebenfalls einen dauernden Wert, und weil Er selbst immerdar vor Gott ist, sind auch sie immerdar vollkommen vor Ihm. Das Werk Christi ist vollkommen, seine Annahme ist vollkommen, nichts kann sie verändern, und auch wir sind vollkommen, weil wir durch Ihn vor Gott vertreten sind.4
- 1Dies ist nicht derselbe Ausdruck wie in 2. Mose 21,6: «Das Ohr durchbohren», ein Zeichen dafür, dass der Sklave an dem Haus seines Herrn hing, um auf immer zu gehorchen. Es ist auch nicht dasselbe Wort wie in Jesaja 50,5: «Du hast mir das Ohr geöffnet», das andeutet, dass der Herr sein Ohr offenhielt, um Morgen für Morgen den Willen des Vaters zu erkennen. Gott hatte Ihm «Ohren bereitet», damit Er diesen Willen erfülle.
- 2Siehe Psalm 51,18 usw., Jeremia 6,20; 7,21-23; Micha 6,6-8.
- 3Siehe z.B. das Buch «Die Opfer» von William Kelly
- 4Alle, die das Christentum angenommen hatten, waren dadurch geheiligt, d.h. vom übrigen Teil des Volkes abgesondert, aber die wahren Gläubigen waren durch das Werk Christi darüber hinaus vor Gott vollkommen gemacht worden.