Der Brief an die Hebräer (19)

Hebräer 10,15-22

Verse 15-18

Nachdem der Verfasser den vollkommenen und bleibenden Wert des Werkes Christi festgestellt hat, zitiert er ein Zeugnis des Heiligen Geistes aus dem Alten Testament bezüglich der Vortrefflichkeit und der ewigen Vollkommenheit dieses Werkes, in seiner Anwendung auf die Gläubigen. Es ist ein Zeugnis aus dem 31. Kapitel des Propheten Jeremia, wo der Herr die Vorrechte des neuen Bundes zeigt, den Er mit seinem Volk errichten wird: «Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken.»

Welch kostbare Tatsache von unendlichem Wert für die Seele ist doch diese Gewissheit der völligen und bedingungslosen Vergebung aller Sünden, eine Gewissheit, die auf den Vorsatz und den Willen Gottes, auf das vollkommene Opfer Christi gegründet ist, verbürgt durch das unfehlbare Zeugnis des Heiligen Geistes! Wir können es mit vollem Glauben ergreifen und haben nichts anderes zu suchen, um unsere Stellung vor Gott zu sichern: «Wo aber eine Vergebung derselben ist», eine vollkommene und bleibende Vergebung der Sünden und der Ungerechtigkeiten, «da ist nicht mehr ein Opfer für die Sünde». Weil das Opfer, das die Sünden für immer vor den Augen Gottes wegnimmt (Heb 9,26), dargebracht worden ist, besteht keine Veranlassung mehr, ein anderes zu opfern.

Nebenbei gesagt, beleuchtet dies den grossen und verheerenden Irrtum des unaufhörlich wiederholten Opfers der Messe, der durch die Römische Kirche gelehrt wird.

In dem bis jetzt betrachteten Teil dieses zehnten Kapitels finden wir also, kurz zusammengefasst:

  1. Im 10. Vers, dass unsere Erlösung eine göttliche Quelle hat; sie entspringt dem Willen Gottes;
  2. im 12. Vers, dass sie durch ein göttliches Werk – durch das Opfer Christi – Tatsache geworden ist;
  3. im 15. Vers, dass hierüber ein göttliches Zeugnis, das des Heiligen Geistes, besteht. Wir haben hier also den Willen Gottes des Vaters, das Werk des Sohnes und das Zeugnis des Heiligen Geistes.

Verse 19-21

Der grosse lehrhafte Teil dieses Briefs, dessen grosser Gegenstand das Priestertum Christi in der Herrlichkeit ist, findet hier seinen Abschluss. Die praktische Folgerung aus den Belehrungen bezüglich dieses Priestertums und der Vollkommenheit des Opfers des Christus, der sich jetzt zur Rechten Gottes gesetzt hat, ist die: Nachdem die Sünde zunichtegemacht und das Gewissen gereinigt ist und die Gläubigen auf immerdar vollkommen gemacht sind, ohne Sünde in den Augen Gottes, haben sie nun volle Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum. Es besteht keine Schranke mehr, die ihnen den Zugang verwehrte: Das Blut Jesu, das allen Anforderungen der Gerechtigkeit Gottes entsprach, erlaubt ihnen jetzt, ohne Furcht in die Gegenwart Gottes, die für sie ohne Vorhang ist, einzutreten und darin zu bleiben. Wunderbares Vorrecht für ehemalige Sünder, deren Unreinheit sie von diesem gesegneten Platz ausgeschlossen hatte! Aber Christus hat durch sich selbst die Reinigung von den Sünden bewirkt, ist dann selbst dort eingetreten und hat für uns den Zugang geöffnet indem Er uns den Weg gezeigt hat.

Dieser Weg ist – sein Fleisch. Die Menschheit Christi – seine Erniedrigung – war wie ein Vorhang, der seine göttliche Herrlichkeit vor dem sündigen Menschen verbarg. Der Glaube allein vermochte sie zu erkennen. Aber bei seinem Tod ist der Vorhang zerrissen worden,1 die Sünde wurde weggenommen, und in dem auferstandenen, zur Rechten Gottes verherrlichten Christus kann der Mensch jetzt durch den Glauben die Herrlichkeit Gottes betrachten und, weit mehr, in seine Gegenwart zugelassen werden.

Das also ist der Weg. Der Brief hat uns Christus als ein für alle Mal in das Heiligtum eingegangen gezeigt (Heb 9,12); und jetzt werden die Erlösten ermahnt, Ihm zu folgen und den Weg zu betreten, den Er uns selbst geöffnet hat. Es ist ein neuer Weg, der bis dahin nicht bestanden hatte, da der Zugang zum Allerheiligsten untersagt war. Es ist ein lebendiger Weg, da Christus, nachdem Er durch den Tod hindurchgegangen, jetzt auferstanden ist und, in der Kraft eines unauflöslichen Lebens, bis in alle Ewigkeit in der Herrlichkeit lebt. Sein Tod war nötig, um unsere Sünden zu sühnen; aber wir benötigen ebenso sehr sein Auferstehungsleben in der Herrlichkeit, um uns da einzuführen, wo Er ist. «Indem er immerdar lebt», wird gesagt (Heb 7,25).

Unter dem Gesetz hatte der Hohepriester nur einmal im Jahr die Möglichkeit, in das Allerheiligste einzutreten, und zwar mit dem Blut von Opfern. Jetzt aber können die Geheiligten, die durch das Blut Jesu erkauften Gläubigen, allezeit ins Heiligtum eintreten, und zwar mit voller Freimütigkeit, da sie kein Gewissen von Sünden mehr haben. Noch mehr, sie finden dort den grossen Hohepriester, der über das Haus Gottes gesetzt ist, Jesus selbst, der uns im Heiligtum vertritt. Alles ist getan, damit wir uns in der Gegenwart Gottes glücklich und wohl fühlen können.

Vers 22

Nachdem dies festgestellt ist, folgen die auf diese Wahrheiten gegründeten Ermahnungen. Die erste

lautet: «Lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen, in voller Gewissheit des Glaubens, die Herzen besprengt und so gereinigt vom bösen Gewissen und den Leib gewaschen mit reinem Wasser.» Nachdem alle Schranken, die uns den Zugang zu Gott versperrt haben, weggetan sind, werden wir ermahnt, von diesem unermesslichen und kostbaren Vorrecht, hinzuzutreten, Gebrauch zu machen.

Hierauf wird der sittliche Zustand des Hinzunahenden beschrieben. Er soll mit einem wahrhaftigen, aufrichtigen Herzen ohne Trug nahen, das vor Gott, vor dem es sich aufgrund des Werkes Christi befindet, nichts zu verbergen hat. Dies ist der Zustand dessen, der die Vollkommenheit und die Wirksamkeit dieses Werkes erfasst und wertschätzt, und der mit dem Psalmisten sagen kann: «Glückselig der, dessen Übertretung vergeben, dessen Sünde zugedeckt ist! Glückselig der Mensch, dem der HERR die Ungerechtigkeit nicht zurechnet und in dessen Geist kein Trug ist!» (Ps 32,1-2). Zu einem wahrhaftigen Herzen gesellt sich die volle Gewissheit des Glaubens, der sich, ohne irgendeinem Zweifel Raum zu lassen, die göttlichen Erklärungen bezüglich des vollkommenen Wertes der durch das Opfer Christi vollbrachten Sühnung aneignet. Durch diese beiden Dinge – ein vor Gott wahrhaftiges Herz und die volle Gewissheit des Glaubens – wird Gott selbst, wie auch Christus und sein Werk, verherrlicht.

Der Schluss des Verses zeigt, auf welcher Grundlage man ein wahrhaftiges Herz und eine volle Gewissheit des Glaubens haben kann: Wenn die Herzen ein für alle Mal mit dem Blut Christi besprengt, vom bösen Gewissen und vom Gefühl der Schuldhaftigkeit, das auf die Sünde folgt, gereinigt sind und der Leib mit reinem Wasser gewaschen ist.

Was bedeuten diese letzteren Worte? Sie sind ohne Zweifel eine Anspielung auf die Priester, die anlässlich ihrer Weihe mit Blut besprengt wurden, nachdem sie, um Gott nahen zu können, mit reinem Wasser gewaschen worden waren (2. Mose 29). Auch am grossen Versöhnungstag wusch Aaron sein Fleisch, bevor er ins Allerheiligste hineinging.2

Das waren Bilder. Das reine Wasser ist das Wort in seiner Anwendung auf die Seelen, durch die Kraft des Heiligen Geistes. Das geht aus verschiedenen Stellen hervor. In Johannes 13,10.11 sagt der Herr: «Wer gebadet ist, hat nicht nötig, sich zu waschen, ausgenommen die Füsse, sondern ist ganz rein; und ihr seid rein, aber nicht alle. Denn er kannte den, der ihn überliefern würde; darum sagte er: Ihr seid nicht alle rein.» Diese Worte werden uns in Kapitel 15,3 erklärt: «Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe». So wie das Wasser unseren Körper reinigt, so bringt auch das auf unsere Seelen angewendete Wort ihre Neugeburt hervor und reinigt sie, und zwar ein für alle Mal, ohne dass eine Wiederholung stattfinden muss. Paulus redet in Titus 3,5 von der «Waschung der Wiedergeburt»; Petrus sagt: «Ihr seid nicht wiedergeboren aus verweslichem Samen, sondern aus unverweslichem, durch das lebendige und bleibende Wort Gottes» (1. Pet 1,23); Jakobus schreibt: «Nach seinem eigenen Willen hat er uns durch das Wort der Wahrheit gezeugt» (Jak 1,18); und der Herr belehrt uns, dass wir aus «Wasser und Geist» geboren werden müssen (Joh 3,5).

Es ist sehr wichtig zu beachten, dass die Worte, deren der Apostel sich bedient, anzeigen, dass es keine Wiederholung der Besprengung des Blutes gibt, so wenig wie eine wiederholte Waschung der Wiedergeburt durch das Wort. Die Sache ist ein für alle Mal geschehen; wir sind nun in dieser Stellung. Daher können wir mit wahrhaftigem Herzen und voller Gewissheit des Glaubens hinzunahen, ohne dass sich eine Frage erheben darf in Bezug auf unser Vorrecht, in die Gegenwart Gottes einzutreten.

Wir dürfen aber nicht vergessen; dass, wenn auch unsere Stellung der Weihe für Gott ein für alle Mal gesichert ist, die Waschung mit Wasser, also die Wirksamkeit des Wortes auf die Seele, sich in der Praxis fortsetzen muss. Diese praktische Wirksamkeit des Wortes wird durch die Fusswaschung in Johannes 13 bildlich dargestellt, und auch in Bezug auf die Versammlung wird in Epheser 5,26 davon gesprochen: «Damit er sie heiligte, sie reinigend durch die Waschung mit Wasser durch das Wort.»

  • 1Im Bild sehen wir dies in Matthäus 27,51: Der Vorhang des Tempels wurde von oben bis unten, vom Himmel zur Erde, von Gott zum Menschen, zerrissen. Der Schlag, der Jesus traf, kam von oben und zeigt, dass Gott nicht mehr verborgen bleibt: Der Tod Christi öffnet für den Sünder den Zugang zu Gott.
  • 2Die Taufe mochte zu dieser Anspielung Anlass gegeben haben. In der Apostelgeschichte 22,16 lesen wir: «Lass dich taufen und deine Sünden abwaschen, indem du seinen Namen anrufst» (den Namen Jesu). Siehe auch 1. Petrus 3,21.